: Hanna Kuhlmann
: Nacht der Diebe Roman
: Verlagsgruppe Droemer Knaur
: 9783426444245
: 1
: CHF 6.50
:
: Fantasy
: German
: 352
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
2016 in Leipzig mit dem Indie Autor-Preis ausgezeichnet, erscheint Hanna Kuhlmanns viel beachtetes Debüt nun auch als Taschenbuch: Shivari wurde vom Gott des Wassers dazu auserwählt, sein Erbe anzutreten - und dank dieser neuen Fähigkeiten gelingt es Shivari schnell, innerhalb der Diebesgilde der Stadt Vesontonio aufzusteigen. Doch die Welt der Götter ist im Umbruch, und auf den eigensinnigen jungen Dieb warten weitaus größere Aufgaben, als die Herrschaftsinsignien aus dem Palast zu stehlen. Und dann ist da noch Fuchs, ein junger Adliger, der mehr Gefallen an einem Leben als Meisterdieb denn als künftiger Fürst findet, und Shivaris Weg immer wieder kreuzt ... Preisgekrönte, klassische Fantasy mit einem originellen Twist.

Hanna Kuhlmann, Jahrgang 1992, war schon immer eine leidenschaftliche Verfasserin von Geschichten, egal ob als Gedicht, Kurzgeschichte oder Roman. Schon in jungen Jahren ging sie dieser Faszination nach und studierte später schließlich Germanistik und Buchwissenschaft. Neben dem Buch ist der Film ihre größte Leidenschaft.

Der Schwarzgewandete


Ich machte mich auf den Weg, als die ersten Dämmerdrachen flogen. Vor mir lag Vesontonio, majestätisch wie ein König, aufdringlich wie eine Hure. Eine stinkende, übermüdete Hure, die ihre besten Tage schon lange hinter sich hatte, denn hier in den Elendsvierteln bekam man selten das, was einem zustand.

In der hereinbrechenden Dunkelheit kroch das Gesindel aus seinen Löchern, lauerte in dunklen Gassen, versammelte sich an Kreuzungen und lungerte in den Hinterhöfen herum. Die Nacht war noch zu jung, um sie als gefährlich zu bezeichnen. Aber hier am unteren Ende der Gesellschaft war es sowieso nie wirklich sicher.

Weil ich mir keine Schuhe leisten konnte, lief ich barfuß und achtete darauf, nicht in irgendwelche Scherben oder Splitter zu treten. Gerade heute wollte ich es nicht darauf ankommen lassen, und auf den Schmerz konnte ich auch getrost verzichten. Zwar heilten meine Wunden schneller, wenn ich in meine Substanz griff, aber heute Nacht brauchte ich jede einzelne Essenz daraus, um erfolgreich zu sein. Viel mehr Versuche würde Askani mir nicht geben.

Ich ließ die rauen Straßen, die ungehobelten Menschen und vor allen Dingen den Gestank mehr und mehr hinter mir, je näher ich dem Königsviertel kam. Die Fassaden wurden sauberer, die Häuser weniger baufällig und die Straßen so blitzblank, dass ich mich fast schon schämte, meine Schmutzfüße darauf zu setzen. Fast.

Auf dem Windweg in der Nähe des Tempels sah ich aus der Entfernung die ersten Wachen. Sie begleiteten die Anzünder, die entlang der Hauptstraße die Laternen zum Leuchten brachten. Das war für mich das Zeichen, eine Etage höher weiterzumarschieren.

Ich bog in eine Seitenstraße und vergewisserte mich, dass ich unbeobachtet war, bevor ich in meine Substanz tauchte.

Sofort wurde die Welt unendlich viel klarer. Meine Sinne schärften sich, und ich spürte in meiner unmittelbaren Umgebung jede Pfütze, jeden Stein und jeden Splitter. Ich nahm den Dreck auf meinen Füßen wahr, den rauen Stoff meines Mantels, das leise Fiepen der Mäuse in einer Hauswand hinter mir. Mein Atem kam mir wie eine Sturmböe vor, verräterisch laut in dieser Welt der Stille.

Ich wartete einige Momente, bis ich mich an den Energiestrom gewöhnt hatte, der durch meinen Körper floss, und zog dann ein paar Essenzen aus meiner Substanz, die ich in meine Füße leitete und dort verdichtete. Vorsichtig setzte ich einen Fuß an die Mauer vor mir und belastete ihn kurz, um zu prüfen, ob er standhielt. Tat er. Dann setzte ich den zweiten Fuß daneben und stand nun waagerecht an der Wand, darum bemüht, das Gleichgewicht zu halten.

Sobald ich mein ganzes Gewicht dagegenstemmte, spürte ich den sanften Sog meiner Substanz, die die Energie verbrauchte. Ich verringerte sie etwas und hielt mich dafür mit den Händen an der Mauer fest, damit ich nicht abrutschte, als meine Magie etwas nachließ. Ich sollte mich nicht jetzt schon zu sehr verausgaben, ich wusste schließlich nicht, was im Laufe dieser Nacht noch alles geschehen würde, und wollte gut vorbereitet sein.

Angespannt fing ich an zu klettern und verscheuchte nebenbei ein paar Staubdrachen, die mich angifteten, weil ich ihre Nester als Trittstufe benutzte. Hier waren sie nicht so zahlreich wie in den Elendsvierteln, denn die Edelmänner hatten gerne saubere Fassaden. Als wäre ein tadelloses Äußeres gleichbedeutend mit einem reinen Inneren.

Oben angekommen, zog ich mich