Freundschaft ist weit tragischer als Liebe. Sie dauert länger.‹ Wie findest du das Zitat, Jean?«
»Ni schlech«, murmelte Jean. »Chool.« Er war kaum zu verstehen, weil er sich zwei Buntstifte zwischen die Zähne geklemmt hatte.
»Ist von Oscar Wilde.« Jule legte das Zitatebuch zur Seite. Sie saß im Schneidersitz auf der breiten Durchreiche zwischen der Küche und dem Garten ihres kleinen Cafés Lindenblüte. »So. Entscheidung gefallen. Das nehme ich.«
Sie griff zu ihrem neuen Skizzenbuch, schlug die erste Seite auf und notierte Zitat und Datum in Schönschrift. Die königsblaue Tinte glänzte feucht. Gebannt beobachtete Jule die faszinierende Verwandlung, bei der die Tinte in das Papier einfloss, sich mit den Zellulosefasern verband, ganz langsam trocknete und einen matten Ton annahm.
Tinte, das verkörperte in ihren Augen Ruhe und Gelassenheit. Im Gegensatz zu Kugelschreiber oder Bleistift entschleunigte sie das Schreiben. Dieses Gefühl, die Gedanken im wahrsten Sinn des Wortes auf das Papier fließen zu lassen, erinnerte sie an ihre Zeit in Japan. Wie sehr hatte sie dort die ruhige Hand eines Kalligrafen bewundert, seine Wertschätzung für das Papier, für die Tinte und für die Worte. Genauso wollte Jule es halten und dieses Buch sorgsam behandeln. Jede Woche würde sie seine Seiten mit einer neuen Zeichnung von einem leeren Blatt in eine Erinnerung verwandeln und das beginnende Jahr in Bildern festhalten.
Jean nahm kurz die Stifte aus dem Mund und schaute von seinem eigenen Zeichenblock auf. »Vielleicht sollte ich auch mal wieder ein paar alte Freunde anrufen. Man verliert sich zu schnell aus den Augen. Und im Nu ist einem die Zeit wie Sand zwischen den Fingern durchgeflossen.«
Jule lächelte. »Ja, das habe ich mir unlängst auch gedacht. Deshalb haben wir das jetzt auch endlich angeleiert. Also, Cora, Maike und ich.«
»Mweer?«, brummelte Jean, der sich die Stifte wieder zwischen die Zähne geklemmt hatte und lange Striche auf das Papier warf.
»Habe ich dir wirklich noch nichts von denen erzählt?« Jule rückte den Block auf ihren Knien zurecht.
Jean schüttelte den Kopf.
»Meine ältesten und besten Freundinnen. Wir kennen uns seit einer Ewigkeit, sind durch dick und dünn gegangen und haben in einer gemeinsamen Wohnung in Frankfurt gelebt. Wir haben einfach alles zusammen gemacht: Reisen, lernen, Partys, lange Abende voller Gespräche. Wir waren mehr Schwestern als Freundinnen.«
Mit einem Seufzer ließ Jule den Block sinken und schaute hinaus, in den nebelverhangenen Garten der Lindenblüte.
Jean kritzelte konzentriert. Er schien nur mit halbem Ohr zuzuhören. »Mhrm. Romntisch.«
Jule seufzte noch einmal und sortierte ihre Zeichenstifte, die in zwei mit buntem Kies gefüllten Marmeladengläsern steckten. »Romantisch? Hm. Irgendwie schon. Die beiden bedeuten mir sehr viel, und sie fehlen mir sehr. Es wird Zeit, dass wir uns endlich wiedersehen.«
»Hawt ehr och feft verfabred?«
Jule strahlte. »Oh ja, das haben wir! Ob ich das irgendwie im Bild einfangen kann? Diesen Neujahrsmorgen, die Freundschaft und was sie mir bedeutet?«
»Mlar«, nuschelte Jean, spuckte die Stifte aus und fuhr sich durch die Haare. Um die Augen herum sah er ein wenig müde aus, dennoch saßen das Haar und Rockabilly-Jeans und -hemd tadellos. »Denk nicht so viel drüber nach. Lass es fließen!Das ist der Augenblick!Das ist die pure Emotion. Hol die Bilder aus dir heraus, lass die Inspiration durch dich hindurchströmen. Du hast so viel Routine, du brauchst nicht mehr über jedem Strich zu grübeln, deine Finger wissen, was zu tun ist. Aber du musst diese Denk-Jolanda ausschalten, die zwischen deinen Emotionen und deinen Fingern sitzt. Es gibt nur deine Gefühle und deinen Stift – Swischswisch!«
Er warf das Blatt hinter sich, wedelte mit einem Rotstift wie mit einem scharfen Degen und stürzte sich dann auf das nächste leere Blatt wie D’Artagnan auf die Schergen des Kardinals. Sein wilder, verhangener Blick glitt vom Papier in den Garten und vom Garten auf das Papier. Zu seinen Füßen bedeckten die Skizzen den Küchenboden wie bunter Schnee.
Eigentlich hatte die Lindenblüte heute geschlossen und Jean, der Koch, frei.
Aber Jean war eben Jean, spontan und stets voller Ideen, und so hatte Jules Smartphone schon kurz nach acht eine Nachricht empfangen, die vor lauter Vorschlägen nur so überquoll.
Jules Blick wanderte ebenfalls durch das große Fenster hinaus in den Garten. Wie so oft am Neujahrsmorgen war es kalt, ohne wirklich winterlich zu sein. Eine klamme, feuchte Kälte hing über dem Rasen und verhüllte die Obstbäume. Hinter dieser Nebelwand versteckte sich ein letzter Rest Nacht, der sich langsam zurückzog.
Jule tippte mit dem Bleistift auf dem Block herum und ließ die Stimmung auf sich wirken. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie den völlig der Kunst zugewandten Jean, der wie in Trance zeichnete und kolorierte. Jean war mehr als ein Mitarbeiter für sie, er war eine verwandte Künstlerseele und auf dem besten Weg, ein guter Freund zu werden.
Es gibt nur mich und meinen Bleistift. Und es gibt den Anfang. Ohne Anfang kein Flow.
Sie rückte ihren kuscheligen Wollponcho zurecht und setzte die Bleistiftspitze auf das Papier.
Vollkommen egal, ob diese erste Zeichnung des Jahres ungelenk wurde. In zwanzig Jahren würde sie froh sein, nicht