: Jakob Nolte
: Schreckliche Gewalten
: Matthes& Seitz Berlin Verlag
: 9783957574275
: 1
: CHF 17.90
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: Krimis, Thriller, Spionage
: German
: 340
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Eines Nachts verwandelt sich Hilma Honik in einen Werwolf und tötet ihren Mann. Von nun an sind ihre beiden Kinder auf sich selbst gestellt: immer in der Angst, die Bestialität liege in der Familie und könne auch von ihnen Besitz ergreifen. Während sich Iselin dafür entscheidet, in ihrer Heimatstadt Bergen mit ihren Mitbewohnerinnen die Terrorzelle »Mädchen im System« zu gründen, bereist Edvard die Ränder der Sowjetunion auf seinem Weg nach Afghanistan. Es beginnt eine fantastische Sinnsuche durch das 20. Jahrhundert und die Unwägbarkeiten menschlichen Verhaltens. In seinem zweiten Roman zeichnet Jakob Nolte einen schwarzen Regenbogen des Horrors über die Welt und erweist sich dabei als detailverliebter Nihilist und Meister des Wahnwitzes.

Jakob Nolte, geboren 1988, wuchs in Barsinghausen am Deister auf. Seine Theaterstücke wurden mehrfach prämiert und an zahlreichen Bühnen Europas gespielt. Sein Debütroman ALFF wurde mit dem Kunstpreis Literatur 2016 ausgezeichnet. Im selben Jahr war er Stipendiat der Villa Kamogawa in Kyoto. Sein Roman Schreckliche Gewalten war für den Deutschen Buchpreis nominiert.

(die kein Herz hatte. In ihrem Brustkorb lebte eine Art Insekt. Ein Tier, weitaus intelligenter als Mensch und Seehund. Dieses Tier beherrschte die norwegische Sprache und konnte so mit Sofia kommunizieren. Es hatte die Form eines Herzens und sein Körper imitierte die Funktionen eines Herzens, mit dem einzigen Unterschied, dass es sich seiner selbst bewusst war und dass Zusammenziehen und Entspannen der Herzkammern kein Reflex, sondern ein willentlicher Vorgang waren. Dieses Tier, welches keinen mit dem menschlichen Sprachvermögen zu artikulierenden Namen besaß, konnte entscheiden, ob Sofia leben oder sterben sollte. Es konnte außerdem nach eigenem Ermessen ihre Körpertemperatur bestimmen, sodass es, wenn es Sofia bestrafen wollte, auf 30° oder 29° Celsius abkühlte, was ihr ein unmöglich zu ertragendes Frostgefühl verursachte.

Die Macht über sie demonstrierte das Wesen zum ersten Mal während des Julfests des Jahres 1964. Es war Bescherung. Sofia litt schrecklich unter der brennenden Kälte in ihrer Brust. Sie weinte und schluchzte und schrie wie ein Schwein, dem die Kehle durchgeschnitten wird. Tränen liefen ihr in Sturzbächen über die Wange, sie sabberte und röchelte mit weit aufgerissenen, vor Qual geweiteten Augen. Sie hatte die Kontrolle verloren, sie hatte Angst, verrückt zu werden. Sie hielt dem Schmerz nicht stand. Sie warf sich auf den Boden und strampelte mit ihren Beinen und ihren Armen. Ihre Lippen liefen blau an, sie verfluchte diesen Tag, sie hasste diesen Tag und den Peiniger in ihrem Brustkorb. Sie wusste nicht, womit sie dieses Leid verdient hatte. In diesem Moment ihres zwölften Lebensjahres hatte sie zum ersten Mal das ungeheure Verlangen, tot zu sein. Sie konnte es sich nicht erklären. Sie kreischte, wie kalt ihr sei, nur immer wieder diese paar Worte. Der Rotz hatte ihr ganzes Gesicht verschmiert. Ihre Verwandten deckten sie fest ein, kochten Tee und versuchten, sie irgendwie warmzuhalten. Und gerade als der Hausarzt in die (sehr) warme Stube kam, stieg die Temperatur des Wesens, das anstatt von Sofias Herz in ihrem Körper lebte, wieder an. Der Hausarzt konnte nichts feststellen, bekam einen Grog und ein paar Plätzchen angeboten, die er aber dankend ablehnte, um möglichst schnell zu seiner eigenen Familie zurückzukehren, und verließ das Haus Hirsch.

Der Parasit hatte vor der Küste Jomfrulands auf ein Opfer gelauert und war auf Sofia gestoßen, die irgendwo in den etwas tieferen Gewässern planschte. Sie hatte bloß einen kleinen Stich gespürt und dachte, dass ein Fisch sie vielleicht gebissen oder ein kleiner Stein sie beim durch die Wellen verursachten Umherwirbeln getroffen habe oder dass es vielleicht ein kleiner Krebs gewesen wäre, der sich an sie gekniffen hätte, aber als sie sich untersuchte, fand sie bloß ein winziges Loch unter ihrer Achselhöhle, aus dem ein dünner Faden Blut rann. Innerhalb eines halben Jahres fraß sich das Tier seinen Weg zum Herzen und dann Stück für Stück Sofias Herz und wandelte seine Gestalt von einer schnecken-, oder wattwurmähnlichen zu der eines Herzens. Sofia war da gerade acht. Wie sollte sie ahnen, dass dieses Empfinden von Schmerz, Unwohlsein oder Kribbeln keine normalen Gefühle des Wachsens und Älterwerdens waren?

Außer einem gelegentlichen Ziehen, das sie und ihre Eltern aber auf eine Lungenschwäche zurückführten, änderte sich in ihrem Leben nichts. Sie ging weiterhin zur Schule, verliebte sich selten und entwickelte ein Interesse für professionelles Feldhockey. Nachts sah sie in die Sterne und ihr