Clemens Brentanos Mixtechnik
Die große LiedersammlungDes Knaben Wunderhorn erschien 1805 und 1808 in drei Bänden. Die Herausgeber Clemens Brentano und Achim von Arnim gaben ihr den UntertitelAlte deutsche Lieder, und damit ist ihr Programm benannt, denn sie behaupteten, verstreute Lieder aus vergangenen Jahrhunderten zusammenzutragen. Im zweiten Band desWunderhorn steht das LiedLaß rauschen Lieb, laß rauschen, das den eingeklammerten Zusatz »mündlich« enthält. Es soll sich damit um ein Lied handeln, das aus der mündlichen Überlieferung stammt und beim Hören aufgezeichnet wurde, im Rahmen einer Feldforschung sozusagen:
LASS RAUSCHEN LIEB, LASS RAUSCHEN
(Mündlich.)
Ich hört ein Sichlein rauschen,
Wohl rauschen durch das Korn,
Ich hört ein Mägdlein klagen,
Sie hätt ihr Lieb verlorn.
Laß rauschen Lieb, laß rauschen,
Ich acht nicht, wie es geht,
Ich thät mein Lieb vertauschen
In Veilchen und im Klee.
Du hast ein Mägdlein worben
In Veilchen und im Klee,
So steh ich hier alleine,
Thut meinem Herzen weh.
Ich hör ein Hirschlein rauschen
Wohl rauschen durch den Wald,
Ich hör mein Lieb sich klagen,
Die Lieb verrauscht so bald.
Laß rauschen, Lieb, laß rauschen,
Ich weiß nicht, wie mir wird,
Die Bächlein immer rauschen,
Und keines sich verirrt.[19]
Wenn das Lied beim ersten Lesen wie aus einem Guss wirkt, dann spricht dies für das literarische Geschick Clemens Brentanos, der es bearbeitet hat, wobei statt von Bearbeitung auch von Erfindung die Rede sein könnte. Denn fragt man nach den zugrunde liegenden Quellen und zerlegt den Text in seine Bestandteile, dann ergibt sich eine angesichts der Kürze erstaunliche Heterogenität. Dem Lied liegen drei verschiedene Quellen zugrunde, und die letzte Strophe hat Brentano selber geschrieben. Markiert man das graphisch, dann sieht das Ganze so aus:
LASS RAUSCHEN LIEB, LASS RAUSCHEN
(Mündlich.)
Q1 Ich hört ein Sichleinrauschen,
Wohl rauschen durch das Korn,
Ich hört ein Mägdlein klagen,
Sie hätt ihr Lieb verlorn.
Q2 Laß rauschen, Lieb, laßrauschen,
Ich acht nicht, wie es geht,
Ich thät mein Lieb vertauschen
In Veilchen und im Klee.
Du hast ein Mägdlein worben
In Veilchen und im Klee,
So steh ich hier alleine,
Thut meinem Herzen weh.
(q) Ich hör ein Hirschleinrauschen
Wohl rauschen durch den Wald,
Ich hör mein Lieb sich klagen,
Die Lieb verrauscht so bald.
B Laß rauschen, Lieb, laßrauschen,
Ich weiß nicht, wie mir wird,
Die Bächlein immer rauschen,
Und keines sich verirrt.
Zu den einzelnen Quellen: Die erste Strophe stammt aus der SammlungMiscellaneen zur Geschichte der deutschen Literatur (Q1), herausgegeben von Bernhard Josef Docen, hier aus dem ersten Band, der 1807, also direkt vor dem zweiten Band desWunderhorn erschienen war. Der Herausgeber war an der Münchener Staatsbibliothek tätig und ein wichtiger Vermittler mittelalterlicher Handschriften. In Docens Sammlung finden sich Textproben sogenannter ›Grassliedlin‹ von 1535.[20] Docen druckt mehrere Eingangsstrophen dieser Lieder, und Brentano übernimmt eine von ihnen und gibt ihr auch in ›seinem‹ Gedicht die Position der Eingangsstrophe. Die zweit