: Dirk von Petersdorff
: In der Bar zum Krokodil Lieder und Songs als Gedichte
: Wallstein Verlag
: 9783835340916
: Kleine Schriften zur literarischen Ästhetik und Hermeneutik
: 1
: CHF 10.80
:
: Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
: German
: 113
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wenn Bob Dylan den Literaturnobelpreis erhält, dann kommt dieses Buch zur richtigen Zeit. Dirk von Petersdorff liest Lieder und Songs als Gedichte. Sie sind »leicht« und »einfach«, wie schon Herder feststellte, gehen aus der »reichen und für alle fühlbaren Natur hervor« und verbinden Sprache und Musik. Lieder und Songs sind in Lebensvollzüge eingebunden, und gerade in ihrer Einfachheit können sie komplizierte Gefühlszustände ausdrücken. Dirk von Petersdorff untersucht drei Phasen der Geschichte des Lieds: Die Romantik von Clemens Brentanos Erfindungen alter Lieder bis zu Heinrich Heines Selbstparodien; die 1920er Jahre mit dem Witz der Comedian Harmonists, den Liebesexperimenten Marlene Dietrichs und den vielen Stimmen der Dreigroschenoper; die Gegenwart seit den 1970er Jahren von Udo Lindenbergs Wiedereinsatz, über die skeptischen Songs von Tocotronic bis zu den Erkundungen eines ungesicherten Ich bei Sven Regener, Judith Holofernes oder im Rap. Immer geht es um die Form von Liedern, also um ihre Rhythmik oder den Einsatz von Reimen, aber ebenso um den historischen Zusammenhang, in dem sie entstehen. Der Lyriker und Literaturwissenschaftler zeigt, dass die Songwriter selbst ein Bewusstsein von der Geschichte des Lieds besitzen, dass sie um ihre Vorläufer wissen und deren Lieder weitersingen.

Dirk von Petersdorff, geb. 1966, Lyriker und Literaturwissenschaftler.

Clemens Brentanos Mixtechnik


Die große LiedersammlungDes Knaben Wunderhorn erschien 1805 und 1808 in drei Bänden. Die Herausgeber Clemens Brentano und Achim von Arnim gaben ihr den UntertitelAlte deutsche Lieder, und damit ist ihr Programm benannt, denn sie behaupteten, verstreute Lieder aus vergangenen Jahrhunderten zusammenzutragen. Im zweiten Band desWunderhorn steht das LiedLaß rauschen Lieb, laß rauschen, das den eingeklammerten Zusatz »mündlich« enthält. Es soll sich damit um ein Lied handeln, das aus der mündlichen Überlieferung stammt und beim Hören aufgezeichnet wurde, im Rahmen einer Feldforschung sozusagen:

LASS RAUSCHEN LIEB, LASS RAUSCHEN
(Mündlich.)

Ich hört ein Sichlein rauschen,

Wohl rauschen durch das Korn,

Ich hört ein Mägdlein klagen,

Sie hätt ihr Lieb verlorn.

Laß rauschen Lieb, laß rauschen,

Ich acht nicht, wie es geht,

Ich thät mein Lieb vertauschen

In Veilchen und im Klee.

Du hast ein Mägdlein worben

In Veilchen und im Klee,

So steh ich hier alleine,

Thut meinem Herzen weh.

Ich hör ein Hirschlein rauschen

Wohl rauschen durch den Wald,

Ich hör mein Lieb sich klagen,

Die Lieb verrauscht so bald.

Laß rauschen, Lieb, laß rauschen,

Ich weiß nicht, wie mir wird,

Die Bächlein immer rauschen,

Und keines sich verirrt.[19]

Wenn das Lied beim ersten Lesen wie aus einem Guss wirkt, dann spricht dies für das literarische Geschick Clemens Brentanos, der es bearbeitet hat, wobei statt von Bearbeitung auch von Erfindung die Rede sein könnte. Denn fragt man nach den zugrunde liegenden Quellen und zerlegt den Text in seine Bestandteile, dann ergibt sich eine angesichts der Kürze erstaunliche Heterogenität. Dem Lied liegen drei verschiedene Quellen zugrunde, und die letzte Strophe hat Brentano selber geschrieben. Markiert man das graphisch, dann sieht das Ganze so aus:

LASS RAUSCHEN LIEB, LASS RAUSCHEN
(Mündlich.)

Q1       Ich hört ein Sichleinrauschen,
    Wohl rauschen durch das Korn,
    Ich hört ein Mägdlein klagen,
    Sie hätt ihr Lieb verlorn.

 

Q2       Laß rauschen, Lieb, laßrauschen,
    Ich acht nicht, wie es geht,
    Ich thät mein Lieb vertauschen
    In Veilchen und im Klee.

 

            Du hast ein Mägdlein worben
In Veilchen und im Klee,
So steh ich hier alleine,
Thut meinem Herzen weh.

 

(q)       Ich hör ein Hirschleinrauschen
    Wohl rauschen durch den Wald,
    Ich hör mein Lieb sich klagen,
    Die Lieb verrauscht so bald.

 

B         Laß rauschen, Lieb, laßrauschen,
    Ich weiß nicht, wie mir wird,
    Die Bächlein immer rauschen,
    Und keines sich verirrt.

 

Zu den einzelnen Quellen: Die erste Strophe stammt aus der SammlungMiscellaneen zur Geschichte der deutschen Literatur (Q1), herausgegeben von Bernhard Josef Docen, hier aus dem ersten Band, der 1807, also direkt vor dem zweiten Band desWunderhorn erschienen war. Der Herausgeber war an der Münchener Staatsbibliothek tätig und ein wichtiger Vermittler mittelalterlicher Handschriften. In Docens Sammlung finden sich Textproben sogenannter ›Grassliedlin‹ von 1535.[20] Docen druckt mehrere Eingangsstrophen dieser Lieder, und Brentano übernimmt eine von ihnen und gibt ihr auch in ›seinem‹ Gedicht die Position der Eingangsstrophe. Die zweit