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Hamburg, Mai 2016
Wie konnte jemand nur so viel Pech haben!
Tränenblind starrte Jule Weisbach auf das zerknitterte Anschreiben der Nobel GmbH& CoKG in ihren Händen.
»… teilen wir Ihnen mit, dass sich der Mietzins für Ihre Gewerberäume ab dem 1. 8. 2016 um 650,– Euro monatlich erhöht …«
Die akkuraten schwarzen Buchstaben verschwammen vor ihren Augen. Wenn kein Wunder geschah, bedeutete dieser Brief das Aus für ihr kleines Café am Alma-Wartenberg-Platz, dem sie in Anlehnung an die berühmte große Schwester drunten in Ovelgönne augenzwinkernd den NamenStrandperlchen gegeben hatte. Es hatte fast zwei Jahre gedauert, bis sie in Ottensen heimisch geworden war. Mittlerweile aber liebte sie dieses schillernde Viertel und konnte sich kaum vorstellen, an einem anderen Ort zu leben und zu arbeiten – und das, obwohl sie im Erzgebirge aufgewachsen und später zum Studium nach Dresden gegangen war, wo inzwischen auch ihre Mutter lebte. Aber jene unbestimmte Sehnsucht nach weitem Himmel, großen Schiffen und der salzigen Luft des Meeres hatte es immer schon in ihr gegeben, und wenn Jule jetzt an den Landungsbrücken stand oder auf dem sonntäglichen Fischmarkt das Geschrei der Händler hörte, fühlte sie sich ganz zu Hause.
Ein Glücksfall, dass ihr Vormieter sich entschlossen hatte, zu seinem Schatz nach Kiel zu ziehen. Damals war hier noch alles grau und trist gewesen, eine heruntergekommene Punkkneipe, die den Anschluss an die Gegenwart verschlafen hatte. Jetzt aber leuchteten die Wände in sonnigem Türkis, und die hell gebeizten Tische und Stühle wirkten wie eine gemütliche Sommerfrische, in der man sich gerne aufhielt. Ein Ort zum Reden, zum Ausruhen, zum Genießen, genauso hatte Jule es sich gewünscht. Die Unterschiedlichkeit ihrer Gäste gefiel ihr dabei besonders. Sie mochte die Alten ebenso gern wie die ambitionierten Mütter mit ihren verzogenen Kleinkindern, die jungen Frauen, die meist im Rudel auftraten, die älteren Freundinnen, die sich so viel zu erzählen hatten, oder die verliebten Pärchen, die sich am liebsten in einen der beiden Strandkörbe kuschelten, die Jule bei halbwegs gutem Wetter vor der Tür aufstellte. Dass die Straßenreinigung regelmäßig den feinen hellen Sand wieder wegkehrte, den ein Freund ihr ebenso unermüdlich vom Elbstrand mitbrachte, war eine andere Sache.
Das zählte Jule nicht einmal zu den Pleiten, die sich wie ein roter Faden durch ihr Leben zogen. Eigentlich war sie inzwischen daran gewöhnt und hatte so einiges an Erfahrung darin gesammelt, wieder aufzustehen und weiterzumachen. Doch seit einigen Monaten häuften sich die Pleiten dermaßen, dass sie manchmal Beklemmungen bekam. Angefangen hatte es im letzten Herbst, als sie die letzten drei Treppenstufen im Hausflur übersehen und sich beim Sturz eine üble Bänderzerrung zugezogen hatte, die erst im Dezember wieder ausgeheilt war. Ohne die tatkräftige Unterstützung von Aphrodite, die zwei Türen weiter ihren Laden catch the bride für schräge Hochzeitsmoden betrieb und spont