Zweiter Teil – Leben und Tod des Harry Mortimer Smith
Fünftes Kapitel – Fanny tritt wieder auf
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»Und nun«, sagte Sarnac, »komme ich auf das Wesentliche im Leben jener Zeit zu sprechen und kann euch schildern, was Liebe in jener übervölkerten, schmutzigen, furchterfüllten Welt, in jenem London des Nebels und des bernsteinfarbigen Sonnenlichtes gewesen ist. Sie war ein karges, wildes, scheues und dabei waghalsiges Gefühl in einem dunklen Walde der Grausamkeit und Unterdrückung und alterte schnell, verkümmerte, wurde bitter und düster. Mich aber ereilte der Tod so früh, daß ich mit einer lebendigen Liebe im Herzen starb ...«
»Um zu neuem Leben zu erwachen«, sagte Heliane leise.
»Zu neuem Leben und zu neuer Liebe«, sagte Sarnac und klopfte sie aufs Knie. »Doch hört weiter ...«
Er nahm ein Stück Holz, das aus dem Feuer gefallen war, warf es in die hellen Flammen und sah zu, wie es zu brennen begann.
»Ich glaube, das erste Wesen, in das ich mich verliebte, war meine Schwester Fanny. Als Knabe von elfoder zwölf Jahren war ich bestimmt in sie verliebt. Um dieselbe Zeit war ich aber auch in eine nackte Gips-Nymphe verliebt, die tapfer auf einem wasserspeienden Delphin in einem öffentlichen Garten von Cliffstone saß. Sie lächelte mit zurückgeworfenem Kopf, den einen Arm winkend hochgehoben, und ihr Lächeln war das Süßeste, ihr Körper das Lieblichste, was man sich vorstellen konnte; ihr Rücken schien mir besonders reizend. An einer bestimmten Stelle konnte man sie von hinten betrachten und dabei die sanfte Kurve ihrer lächelnden Wange sehen, ihre lustige kleine Nasenspitze und die sanfte Rundung ihrer Brust unter dem erhobenen Arm. Ganz heimlich schlich ich immer wieder an diesen Platz, denn das Gefühl von Scham, mit dem man in jener Zeit vollgesogen war, verbot einem, dergleichen harmlos und frei zu betrachten, und ich konnte mich nicht satt sehen an ihr.
Eines Tages, als ich meine Nymphe in dieser Weise anbetete – halb gegen sie, halb gegen ein Blumenbeet gewendet, so daß ich sie von der Seite sehen konnte –, bemerkte ich einen ältlichen Herrn mit breitem, bleichem Gesicht auf einem Gartenstuhl, der sich nach vorne beugte und mich mit einem Ausdruck ekelhafter List betrachtete, als ob er mich ertappt und mein Geheimnis erraten hätte. Er sah aus wie der Fleisch gewordene Geist der Lüsternheit. Da ergriff mich wilder Schrecken, ich stürzte fort und ging nie wieder in jenen Garten. Es war, als ob ein Engel mit flammendem Schwert mich von ihm ferngehalten hätte, oder die Angst, dem scheußlichen alten Kerl wie