: Svenja Gräfen
: Das Rauschen in unseren Köpfen Roman
: Ullstein
: 9783843714938
: 1
: CHF 7.40
:
: Erzählende Literatur
: German
: 240
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
»Svenja Gräfens Sprache ist kunstvoll und von einer eigentümlichen Schönheit.« Benedict Wells Lene lebt mit ihrer besten Freundin in einer WG in einer großen Stadt, ihre liebevolle Familie und der Freundeskreis geben Halt. Als sie Hendrik begegnet, scheint ihr Glück perfekt. Sie plant eine gemeinsame Zukunft, doch Hendriks Vergangenheit schleicht sich in ihr Leben ein. Da ist seine zerrüttete Familie, sein bisweilen merkwürdiges Verhalten. Und Klara. »Die Abende, die Nächte gehörten uns. Wir gingen nicht raus. Wir hatten hier alles, was wir brauchten, das heißt: uns. Wir hätten uns auch in einer Bar gehabt, im Kino, in einem Restaurant; aber eben nicht so, wir hätten uns teilen müssen mit einer ganzen Welt, die nach Aufmerksamkeit schrie.« »Svenja Gräfen erzählt eine kleine Weltbewegung: Wer schon mal verliebt war, weiß es ja: Die Liebe ist - wenn auch nur für eine Zeit - alles. Wie wir's nicht planen können, nichts im Leben, das erzählt Gräfen tastend und ernst.« Nora Gomringer

Svenja Gräfen, geboren 1990 und aufgewachsen in Rheinland-Pfalz, ist Schriftstellerin und feministische Aktivistin. Sie steht mit Texten auf der Bühne, hält Vorträge und leitet Workshops. 2018 wurde sie zum Klagenfurter Literaturkurs eingeladen und ist Alfred-Döblin-Stipendiatin der Akademie der Künste Berlin. Sie lebt in Leipzig und Berlin. »Freiraum« ist nach »Das Rauschen in unseren Köpfen« ihr zweiter Roman.

2


Es war ein Zufall; bloß durch einen Zufall standen wir nebeneinander im U-Bahnhof und warteten. Eine Werbetafel, in der drei Plakate einander abwechselten, quietschte im Takt. Ein älterer Mann telefonierte lautstark. Ein Kleinkind quengelte in seinem Wagen, die Mutter dahinter warf ihren Blick genervt nach oben.

Es war das zweite Mal, dass wir aufeinandertrafen, aber das wusste nur ich. Das erste Mal war ein paar Tage her, das Wetter hatte sich gedreht seitdem. An diesem Tag war es wie ein Aufatmen, ein blauer Himmel hatte sich groß gespannt, man merkte, dass es allmählich wärmer bleiben könnte. Vor ein paar Tagen war es noch windig gewesen, vereinzelt hatte es grelle Sonnenstrahlen an einem düsteren Himmel gegeben, zwischendurch hatte es in kleinen Schüben gehagelt.

Vor ein paar Tagen hatte ich mein Fahrrad mit der kaputten Gangschaltung runter zur U-Bahn getragen. Auf der Treppe herrschte ein Gedränge, es war gerade Stoßzeit, später Nachmittag. Ich schob mich an den Menschen vorbei, an den Aktenkoffern und Rucksäcken, konzentriert darauf, niemanden mit dem Rad zu berühren, nirgendwo anzuecken. Ein Mann im Trainingsanzug sprang die Treppe herunter, zwei, drei Stufen auf einmal und eng an mir vorbei, er stieß dabei so gegen meine Schulter, dass ich ein bisschen zur Seite taumelte. Nicht viel, aber genug, um in diesem Moment jemand anderen am Schienbein zu streifen mit dem einen Pedal. Jemanden, der mir entgegenkam, der die Treppe nach oben stieg. Ich sah eine weinrote Wollmütze und unter der Mütze blondes, wirres Haar, gelockt. Für einen Sekundenbruchteil erwischte ich den Blick, sah ich die müden Augen, sah ich, wie eine Hand die Mütze zurechtrückte. Er wirkte, als würde er gar nicht verstehen, was das gerade gewesen war, etwas Spitzes am Schienbein, irgendetwas aus der Realität, er schaute erst zur Seite, als ich schon einige Stufen weiter unten war, den Hals noch in die andere Richtung gedreht. Ich hätte mich gern entschuldigt, ihm etwas zugerufen, aber er drehte den Kopf wieder nach vorn, ehe er weiter nach oben stieg, mitgezogen wurde von den eilenden Menschen.

Und nun standen wir hier nebeneinander im U-Bahnhof, zufällig, er trug die weinrote Mütze, darunter die hellblonden Haare, ich erkannte ihn.

Die U-Bahn kündigte sich mit einem Luftzug an, sie kam rauschend zum Halten und wir stiegen ein; der ältere Mann stieg ein, die Mutter schob den Kinderwagen mit dem quengelnden Kleinkind hinein. Er und ich saßen uns gegenüber. Das Kleinkind begann, die Einkäufe aus dem Kinderwagen zu werfen. Die Mutter räumte alles Stück für Stück wieder ein, das Kind begann ein zweites Mal zu werfen, so sind die Spielregeln; und da müssen wir grinsen, er und ich, und da treffen sich unsere Blicke und behalten sich einfach, bis zur Endstation.

Hier schließt sich der Kreis, sagte ich, als wir nebeneinander ausstiegen, und bereute es sofort. Das konnte doch bloß ich verstehen, er wusste gar nichts von einem Kreis oder wie er zu schließen wäre, er hatte mich doch gar nicht gesehen. Er schaute fragend, irritiert, aber unsere Blicke blieben verhakt, also sagte ich, ich hätte ihn mit dem Fahrrad gestoßen, am Bein, vor ein paar Tagen an jenem Bahnhof. Ich biss mir auf die Lippe und fühlte, wie mein Gesicht zu glühen begann, ich trennte die Verbindung unserer Blicke, ich schaute auf den Boden, warf dann den Kopf zur Seite, als müsste ich den Ausga