Kapitel 1
»Mein Gott, wie öde.«
Luc Verlain schnaubte verächtlich, als er unter der Pont François-Mitterrand die graue Plörre sah. Die träge dahinfließende Garonne bahnte sich ihren Weg in Richtung Bordeaux – und in Richtung Atlantik. Morgens um vier war er in Paris losgefahren, fünfeinhalb Stunden hatte Luc bis hierher gebraucht. Immer wieder war sein Blick auf den Tacho gefallen:120 km/h. Normalerweise fiel es ihm schwer, sich an das erlaubte Tempo 130 auf Frankreichs Autobahnen zu halten. Doch heute hatte er seinen alten blauen JaguarXJ6 unbewusst immer wieder abgebremst, gerade so, als wollte er die Fahrt von Paris in die Provinz auf Tage verlängern. Als wollte er nie ankommen.
Nun aber war er da, sein Blick fiel auf das Schild auf der Brücke: Bordeaux Centre. Er setzte den Blinker und fuhr von der Route Nationale auf die kurze Autobahn, die ihn immer am Fluss entlang in die Stadt bringen sollte. Links lagen die Gewerbegebiete, der alte riesige Schlachthof, der schon seit einigen Jahren außer Betrieb war. Auf der anderen Seite am rechten Ufer des Flusses standen kleine Häuser auf Stelzen im Fluss, Hütten für Angler. Die Boote schaukelten angeleint davor und warteten auf ihren nächsten Einsatz auf dem grauen Fluss.
Die Garonne war für Luc schon immer ein Phänomen gewesen. Sie bahnte sich ihren Weg durch Bordeaux und dann weiter durchs Médoc, wo sie sich mit der Dordogne zur Gironde vereinigte, ehe sie sich in der riesigen Mündung nördlich von Soulac in den Atlantik ergoss. Touristen fanden ihre grau-braune Farbe häufig abstoßend, Luc aber wusste, dass sie nichts damit zu tun hatte, dass der Fluss verschmutzt war. Es war vielmehr Natur pur: Durch die Gezeiten wurde das Wasser des Atlantiks weit in die Mündung der Garonne gedrückt, mit dem ganzen Salz, das der Ozean enthielt. Im Fluss traf das Salz auf die Tonpartikel, die die Garonne aus Spanien mit sich führte, und Ton und Salz ergaben die braune Farbe.
Eine halbe Stunde von hier landeinwärts lagen die Weinberge von Saint-Émilion, eine halbe Stunde westlich die Strände des Atlantiks. Wie viel Zeit er hier verbracht hatte … Es war, als sei er wieder sechzehn und verdammt, für immer hierzubleiben. In den letzten fünfzehn Jahren war Luc höchstens mal für ein paar Tage hergekommen. Nachdem seine Mutter die Familie verlassen hatte, plagte Luc sein schlechtes Gewissen: Eigentlich hielt er es hier im Aquitaine nicht mehr aus, aber er wollte für seinen Vater da sein, seinen einsamen Vater, den er immer so bewundert hatte. In der Vergangenheit war meistens nichts daraus geworden. Manchmal war er ein ganzes Jahr lang nicht hier gewesen. Sein alter Herr hatte ihn ab und zu in Paris besucht, aber seit einigen Jahren mochte er nicht mehr Zug fahren und verabscheute die laute hektische Hauptstadt. Und nun, dieses Mal, würde Luc bleiben müssen. Ein halbes oder vielleicht auch ein ganzes Jahr. Er wusste noch nicht, wie lange. Für seinen Geschmack aber auf jeden Fall zu lange.
Er lenkte den Wagen von der Autobahn runter in Richtung Gare Saint-Jean. Hinter dem Bahnhof bog Luc nach links ab in Richtung Stadtzentrum. Er scheute sich davor, schon jetzt am Place de la Bourse vorbeizufahren – diesem hochherrschaftlichen Platz im Zentrum der Stadt mit seinen pompösen Palästen. Dieses Wahrzeichen Bordeaux’ symbolisierte alles, was die Stadt für Luc ausmachte und was er verabscheute: die Bourgeoisie, die überbordende Arroganz des Bürgertums, der zur Schau gestellte Reichtum und die Spießigkeit. Dagegen hatte er sich als Jugendlicher aufgelehnt – und deshalb war er als junger Polizist von hier geflohen. Niemals hätte er länger in Bordeaux leben können. Und er wollte es auch jetzt nicht.
Wenn er den guten Wein aus der Region trinken oder Austern aus Arcachon essen wollte, konnte er auch in Paris in dieGaleries Lafayette