1. KAPITEL
Er beobachtete sie.
Noch immer.
Soraya verspürte ein Prickeln im Nacken, zwang sich jedoch, nicht aufzuschauen, weil sie wusste, was sie dann sehen würde.
Den Mann, der im Halbdunkel saß.
Groß. Dunkel. Breite Schultern, Lederjacke, harte Gesichtszüge. Ein Abbild von Männlichkeit. Auch wenn sein Gesicht in dem schummrigen Licht in der Bar halb im Schatten lag, wusste sie, dass sein Blick auf sie gerichtet war. Sie spürte ihn, weil er ihr Blut zum Kochen brachte. Und sie seltsam atemlos machte.
Sein Interesse machte Soraya nervös. Sie beugte sich näher zu ihren Freunden. Raoul und Jean Paul diskutierten über Politik, während Michelle und Marie sich über Mode unterhielten. Als Raoul lässig einen Arm um ihre Schultern legte, versteifte sie sich sofort, ehe sie sich in Erinnerung rief, dass diese Geste sicher nur freundschaftlich gemeint war.
Soraya mochte das lockere Leben in Paris, ihre Zurückhaltung hatte sie jedoch nicht abgelegt. Sie hatte Bakhara zwar verlassen, aber innerlich lebte die Heimat mit den strengen Regeln in ihr weiter.
Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr und wandte sich gegen ihre Absicht um.
Er saß immer noch zurückgelehnt an seinem Tisch, beschienen vom flackernden Licht der Kerze. Jetzt sah er zu einer langbeinigen Blondine hoch, die ein kurzes rotes Satinkleid trug. Die Frau beugte sich vor, ihr gewagter Ausschnitt eine unverblümte Einladung.
Abrupt wandte Soraya sich wieder ihren Freunden zu, ohne darauf zu achten, dass Raoul seinen Griff um ihre Schultern jetzt deutlich verstärkte.
Zahir lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und umklammerte sein Glas, das sich angenehm kühl anfühlte. Die Hitze, die er verspürte, war allein der Frau auf der anderen Seite des Raums geschuldet.
Wo war er nur hineingeraten, zum Teufel?
Eine einfache Sache, hatte Hussein gesagt. Unkompliziert.
Zahir schüttelte den Kopf. All seine Sinne schrien förmlich „Alarm“. Und sein Instinkt meldete warnend Probleme an.
Trotzdem blieb er. Er hatte keine andere Wahl. Nun, da er sie gefunden hatte, konnte er nicht einfach gehen.
Er legte den Kopf nach hinten, sodass der Eiswürfel aus seinem Glas in seinen Mund glitt. Hart biss er darauf, als könnte das kalte Eis ihm wieder zu Gelassenheit verhelfen.
Doch es war mehr als Eis erforderlich, um seine Anspannung zu lösen.
Unter anderen Umständen hätte er vielleicht die Einladung der sinnlichen Blondine mit dem kurzen Kleid angenommen. Er erfreute sich an den Vergnügen des Lebens – aber seine Pflichten hatte er darüber nie vernachlässigt.
Und an diesem Abend ging es allein um Pflicht, Verantwortung.
Dennoch war mehr daran. Etwas … Unbekanntes, hervorgelockt durch dunkle Augen und herzförmige, volle Lippen. Durch eine Frau, die an den Worten eines dürren Intellektuellen hing, der vor sich hin schwadronierte, als hätte er eine Ahnung davon, wie man ein Land regierte.
Schnaubend setzte Zahir sein Glas ab.
Was auch immer er fühlen mochte, es gefiel ihm nicht. Weil es auf Probleme hindeutete, die er nicht wollte. Und die Ungeduld in ihm schürten.
Dabei setzte er vielmehr auf die Fähigkeiten eines Staatsmannes: Verhandlungsgeschick und Diskretion. Von Kind an war er zum Krieger ausgebildet worden. Und die harte, körperliche Auseinandersetzung verschaffte ihm Befriedigung.
Er musterte den Angeber, der mit seinem Intellekt prahlte und die Frau in dem dunklen Kleid an sich zog. Als die Hand des Franzosen über ihrem nackten Arm schwebte, ballte Zahir die Hand zur Faust.
Am liebsten hätte er diesem Clown eine kurze, aber heftige Lektion darin erteilt, was wirkliche Macht bedeutete.
Die Intensität seiner Gefühle ließ ihn innehalten.
Eine dunkle Vorahnung erfasste ihn mit eisigen Klauen.
Er hätte diesen Auftrag nicht annehmen sollen.
Soraya rückte ein wenig von Raoul ab.
Es war schon sehr spät, und sie sollte besser zu Hause im Bett sein. Was jedoch nicht möglich war, weil ihre Freundin Lisle, mit der sie zusammenwohnte, Besuch von ihrem Freund hatte, mit dem sie sich aussöhnen wollte. Für Soraya hieß das, vielleicht bis zum Morgengrauen nicht nach Hause zu können.
Dass sie endlich zugestimmt hatte, mit Raoul zu tanzen, war ein Fehler gewesen. Stirnrunzelnd schob sie seine Hand zur Seite, die sich auf Irrwegen befand.
Normalerweise hielt Soraya die Männer auf Abstand. Und sie hatte sich nur auf den Tanz eingelassen, um dem beunruhigenden Blick des Fremden zu entkommen. Denn das Glühen in seinen Augen sprach all ihre Sinne an.
Auch jetzt noch spürte sie seinen Blick in ihrem Rücken, auf ihren nackten Armen, als würde er sich dort einbrennen.
Was wollte er nur von ihr? In ihrem schlichten Kleid fiel sie doch kaum auf, sondern wirkte eher jungfräulich, wie Lisle sagen würde.
Soraya wäre am liebsten zu dem Fremden marschiert, um ihm ihre Meinung zu sagen. Aber schließlich waren sie in Paris, wo die Männer ständig Frauen anstarrten. Raouls Aufdringlichkeit riss sie aus ihren Grübel