: Chris Kraus
: I Love Dick
: Matthes& Seitz Berlin Verlag
: 9783957572042
: 1
: CHF 9,90
:
: Erzählende Literatur
: German
: 292
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Chris Kraus, eine gescheiterte Künstlerin, die unaufhaltsam auf die 40 zugeht, lernt durch ihren Ehemann den akademischen Cowboy Dick kennen. Dick wird zu ihrer Obsession. Völlig überwältigt von ihren Gefühlen schreibt sie zunächst eine Erzählung über ihr erstes Treffen, dann verfasst sie Briefe, die sie nicht abschickt, und auch Sylvère, ihr Mann, wird Teil dieses Konzept-Dreiers. Mal schreiben beide Dick gemeinsam, mal einzeln, doch während Sylvère irgendwann sein Interesse wieder verliert, verstrickt sich Chris immer mehr in die Abgründe ihrer eigenen Begierde. Chris Kraus hebt in ihrem mittlerweile in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzten und als Amazon-Serie verfilmten Roman die Grenzen zwischen Fiktion, Essay und Tagebuch auf und schuf damit gegen Ende des 20. Jahrhunderts ein völlig neues Genre. Was die Autorin selbst als 'Bekenntnis- Literatur' und 'Phänomenologie der einsamen Mädchen' bezeichnet, ist weit mehr als das : Es ist der letzte große feministische Roman des 20. und der erste große Liebesroman des 21. Jahrhunderts.

Chris Kraus, 1955 in New York City geboren, ist Filmemacherin und Autorin. Index nannte sie 'eine der subversivsten Stimmen der amerikanischen Literatur'. Ihre Arbeit wurde für ihre vernichtende Intelligenz, Verletzlichkeit und ihr grelles Tempo gelobt. I love Dick ist ihr wichtigstes Buch. Sie lebt in Los Angeles. Kevin Vennemann, 1977 geboren, ist Autor und Übersetzer, lehrt am Scripps College in Claremont, Kalifornien und lebt in Los Angeles. 2015 promovierte er mit einer Arbeit über Müdigkeit an der New York University. Er veröffentlichte u. a. die Romane Nahe Jedenew und Mara Kogoj.

Szenen einer Ehe

3. Dezember 1994

Chris Kraus (39), experimentelle Filmemacherin, und Sylvère Lotringer (56), College-Professor in New York, essen gemeinsam mit Dick _____, einem Bekannten Sylvères, in einer Sushi-Bar in Pasadena zu Abend. Dick ist Kulturwissenschaftler, kommt ursprünglich aus England und hat seinen Wohnsitz vor Kurzem von Melbourne nach Los Angeles verlegt. Chris und Sylvère haben Sylvères Forschungstrimester in einer Hütte in Crestline verbracht, einer kleinen Stadt in den San Bernardino Mountains, etwa 90 Minuten außerhalb von Los Angeles. Weil Sylvère im Januar wieder unterrichtet, müssen sie schon bald nach New York zurückkehren. Während des Essens besprechen die Männer die jüngsten Entwicklungen postmoderner Theorie, und Chris, die keine Intellektuelle ist, bemerkt, dass Dick ihr wiederholt Blicke zuwirft. Dicks Aufmerksamkeit verleiht ihr ein Gefühl von Stärke, und als die Rechnung kommt, holt sie ihre Diners-Club-Kreditkarte hervor. »Bitte«, sagt sie. »Lasst mich bezahlen.« Im Radio wird für den San-Bernardino-Highway Schneefall angekündigt. Großzügig lädt Dick die beiden ein, die Nacht in seinem Haus in der Wüste des Antelope Valley zu verbringen, knapp 130 Kilometer entfernt.

Chris will aus ihrer Paarhaftigkeit ausbrechen, also erwärmt sie Sylvère für den Nervenkitzel einer Fahrt in Dicks prächtigem und uraltem Thunderbird Cabrio. Sylvère, der einen T-Bird nicht von anderen Vögeln unterscheiden kann und dem sowieso alles egal ist, willigt ein, wenn auch irritiert. Gesagt, getan. Voller Sorge beschreibt Dick ihr äußerst ausführlich den Weg. »Beruhig dich«, unterbricht sie ihn und lächelt. »Ich fahr dir einfach ganz dicht hinterher«, und das tut sie dann auch. Sie ist ein wenig angeheitert, gibt gleichmäßig Gas und fühlt sich an ihre PerformanceCar Chase erinnert, die sie mit 23 im St. Mark’s Poetry Project in New York aufgeführt hat. Sie und ihre Freundin Liza Martin waren einem extrem gut aussehenden Porschefahrer ganz dicht einmal quer durch Connecticut über den Highway 95 gefolgt. Irgendwann fuhr er auf einen Rastplatz ab, doch als Liza und Chris ausstiegen, rauschte er davon. Die Performance war zu Ende, als Liza auf der Bühne aus Versehen, aber in echt, Chris’ Hand mit einem Küchenmesser durchstieß. Blut floss, und alle fanden Liza umwerfend sexy und gefährlich und wunderschön. Unter ihrem flauschigen, sehr knappen Top sprang ihr Bauch hervor, ihre Netzstrumpfhose riss am grünen Vinylminirock auf, und als sie sich zurückschwang, um ihren Schritt zu zeigen, sah sie wie die allerbilligste Hure aus. Ein Star war geboren. Niemand im Publikum fand jedoch Chris’ blasses anämisches Äußeres und ihren durchdringend starren Blick auch nur entfernt einnehmend. Wie hätte man auch? Eine Frage, die vorübergehend zurückgestellt worden war. Doch das hier war jetzt eine ganz andere Welt. Die Musikwunschleitungen von92.3 The Beat brummten. Los Angeles nach den Unruhen, eine auf Glasfasernerven gefädelte Stadt. Dicks Thunderbird befand sich immerzu irgendwo in Sichtweite, die beiden Fahrzeuge waren über das steinerne Flussbett des Highways hinweg auf unsichtbare Weise miteinander verknüpft, so wie John Donnes Augäpfel. Und diesmal war Chris allein.

Bei Dick zuhause entfaltet sich die Nacht wie jener feuchtfröhliche Weihnachtsabend in Eric Rohmers FilmMeine Nacht bei Maud. Chris bemerkt, dass Dick mit ihr flirtet. Seine unermessliche Intelligenz reicht weit über alle PoMo-Rhetorik hinaus und lässt eine grundsätzliche Einsamkeit erkennen, derer sich nur sie und er bewusst sind. Benommen erwidert Chris seine Blicke. Um zwei Uhr morgens spielt Dick ihnen ein Video vor, das im Auftrag des englischen öffentlich-rechtlichen Fernsehens entstand