: Dieter Borchmeyer
: Was ist deutsch? Die Suche einer Nation nach sich selbst
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644100145
: 1
: CHF 28.00
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: Regional- und Ländergeschichte
: German
: 1056
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Dieter Borchmeyers große Erzählung von uns Deutschen: Spiegelbild und Wegweiser zugleich. Die Frage «Was ist deutsch?» ist ihrerseits typisch deutsch - keine andere Nation hat so sehr um die eigene Identität gerungen und tut es bis heute. Wie vielfältig und faszinierend die Antworten auf diese Frage im Lauf der Jahrhunderte ausfielen, das zeigt Dieter Borchmeyer: Von Goethe über Wagner bis zu Thomas Mann schildert er, wie der Begriff des Deutschen sich wandelte und immer wieder neue Identitäten hervorbrachte. Er erzählt von einem Land zwischen Weltbürgertum und nationaler Überheblichkeit, vom deutschen Judentum, das unsere Auffassung des Deutschen wesentlich mitgeprägt hat, von der Karriere der Nationalhymne und der deutschesten aller Sehnsüchte: der nach dem Süden. Borchmeyer erklärt, wie gerade die deutsche Provinz - etwa Weimar und Bayreuth - Weltkultur schaffen konnte und was es für Deutschland bedeutet, sich entweder als Staats- oder als Kulturnation zu verstehen. Dieter Borchmeyer zeichnet ein facettenreiches und eindrückliches Bild des deutschen Nationalcharakters. In einer Zeit der Umbrüche, in der Deutschland wieder einmal seine Rolle sucht, ist diese große Geschichte der deutschen Selbstsuche Spiegelbild und Wegweiser.

Dieter Borchmeyer, geboren 1941 in Essen, war bis 2006 Professor für Neuere deutsche Literatur und Theaterwissenschaft an der Universität Heidelberg. Von 2004 bis 2013 war er Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und Stiftungsratsvorsitzender der Ernst von Siemens Musikstiftung. Dieter Borchmeyer ist Autor zahlreicher Bücher und ein ausgewiesener Experte für die Weimarer Klassik, Richard Wagner, Friedrich Nietzsche und Thomas Mann. Im Jahr 2000 erhielt er den Bayerischen Literaturpreis (Karl-Vossler-Preis).

Die zwei Seelen der Deutschen


«Der Deutsche scheint an seinem eigenen Wesen, an dem eben noch die Welt genesen sollte, selber irre geworden, er traut dem eigenen Gefühl nicht mehr, er fragt herum, was denn eigentlich deutsch sei, der Name hat seinen alten Sinn verloren, man sucht einen neuen, jeder will einen anderen.»

Hermann Bahr: Tagebücher (23. Oktober 1923)

Kein Volk der Geschichte hat sich so unaufhörlich mit der eigenen Identität beschäftigt wie das deutsche. Die Antworten auf die zumal seit dem 18. Jahrhundert immer neu gestellte Frage «Was ist deutsch?» pendeln, bisweilen mit extremen Ausschlägen, zwischen zwei Polen: einem welteinschließenden – kosmopolitischen – und einem weltausschließenden – nationalistischen – Pol. Kaum je ist dieses Pendel der Identitätssuche zum Stillstand gelangt, ja die heftige Bewegung zwischen den Polen hat immer wieder auch dafür gesorgt, dass der eine der beiden Pole Züge des anderen übernahm. Das Dritte Reich hat den übernationalen Aspekt, welcher der Wesensbestimmung des Deutschen ursprünglich eigen ist, gänzlich ausgeschaltet und die Frage «Was ist deutsch?» in einem rein nationalistischen Sinne beantwortet; dessen katastrophale Folgen haben dazu geführt, dass schon die bloße Frage nach der deutschen Identität lange zum Kanon des Verbotenen gehörte. Erst seit der Wiedervereinigung ist sie aus diesem Kanon wieder entlassen worden.

Eine der frühesten und merkwürdigsten Phantasien über die Frage «Was ist deutsch?» finden wir in Grimmelshausens RomanDer Abentheuerliche Simplicissimus aus dem Jahr 1668. Zu Beginn des dritten Abschnitts begegnet der Titelheld nämlich einem teutomanischen «Phantasten», der sich wie Cervantes’ Don Quijote «überstudiert und in der Poeterei gewaltig verstiegen» hat und wähnt, «Gott Jupiter» zu sein. Mit diesem «Narrn» lässt sich der Ich-Erzähler Simplicius Simplicissimus auf ein Rollenspiel ein, indem er in die Rolle des göttlichen Mundschenken Ganymed schlüpft. So offenbart ihm der wahnsinnige Jupiter, es sei «ein groß Geschrei über der Welt Laster zu mir durch die Wolken gedrungen»; die Götterversammlung habe ihn daher gedrängt, die Menschheit durch eine neue Sintflut zu vernichten. Weil er aber «dem menschlichen Geschlecht mit sonderbarer Gunst gewogen» sei, plane er nicht, «alle Menschen zugleich und ohne Unterscheid auszureuten, sondern nur diejenigen zu strafen, die zu strafen sind, und hernach die übrigen nach meinem Willen zu ziehen».[1]

Simplicissimus erfährt nun, worin dieser Wille besteht: «Ich will einen Teutschen Helden erwecken, der soll alles mit der Schärfe des Schwerts vollenden, er wird alle verruchten Menschen umbringen und die frommen erhalten und erhöhen» – ja «die ganze Welt reformieren». Dieser «teutsche Held» ist nun mitnichten ein neuer Arminius (Hermann), er ist ein Gesandter nicht des germanischen, sondern des griechischen Göttervaters – der Germanenmythos wird erst fast ein Jahrhundert später seinen Siegeslauf antreten. Er soll auf dem Parnass erzogen, mit der Schönheit von Narziss, Adonis oder Ganymed ausgestattet sein und eine solche «Anmutigkeit» ausstrahlen, dass er «bei aller Welt beliebt» ist. Ein griechischer Held in deutschem Gewand! Hier scheint bereits dieaffectio originalis, die Verbundenheit des Deutschen mit dem Griechischen, ihren Schatten vorauszuwerfen, die für die deutsche Klassik so fundamentale Bedeutung haben wird: das Selbstgefühl des Deutschen als des modernen Griechen. Der von Jupiter gesandte Messias soll eine neue Weltregierung herbeiführen. Als Friedensfürst wird er kommen – der freilich alle, die sich ihm entgegenstellen, «ausrotten» soll – und von Stadt zu Stadt, von Land zu Land ziehen, um die «klügsten und gelehrtesten Männer» auszuwählen. Aus ihnen wird er ein alle Gemeinden