Aus der Vogelschau
Der Insulaner verliert die Ruhe nicht,
der Insulaner liebt keen Jetue nicht,
der Insulaner hofft unbeirrt,
dass seine Insel wieder’n schönes Festland wird.
Günter Neumann
Im Mai des Olympiajahres 1936 kam meine Tante Friedl aus Übersee zu Besuch. Tante Friedl hätte ich mir auf dem Titelblatt des ModejournalsBerliner Hausfrau in vierfarbigem Glanzdruck vorstellen können. Sie war, was man damals einCharleston-Girl nannte: schlank, mit langen Beinen in silbrig schimmernden Seidenstrümpfen, in jenen Flatterlook der Zwanziger- und frühen Dreißigerjähre gehüllt, den die deutsche Frau dann auf Wunsch des Führers ablegte.
Tante Friedl konnte es sich leisten, die neuen Trends zu ignorieren. Sie hatte vor ein paar Jahren nach Kanada geheiratet, »reich geheiratet«, wie meine Mutter, Minnamartha Kaiser, nie zu bemerken versäumte. Minnamartha wies so darauf hin, dass die flotte Tante uns, dem Rest der Familie Kaiser, die ihr Leben vornehmlich in der KolonieTausendschön am Rand der Stadt verbrachte, Vorbild und Beispiel war. »Sie hat es geschafft«, ergänzte meine Mutter dann wohl, während sie die Kuchengabel in die Cremefüllung eines Liebesknochens stieß oder ein Praliné zu den Lippen führte.
Tante Friedl war erster Klasse mit dem LuxusdampferFrance bis Southampton gereist. Von England nahm sie das Flugzeug; eine Ju 52 der Lufthansa brachte sie nach Berlin-Tempelhof. Es freute sie, dass die Maschine auf den NamenBruno Rodschinka getauft war, sie nahm es als gutes Omen, denn Bruno Rodschinka war ihr Vetter (und damit mein Onkel) gewesen. In den Pioniertagen des Luftverkehrs war er im Nebel abgestürzt, beim Anflug auf London. Ede, mein Vater, hatte sein Begräbnis in allen Einzelheiten vorausgeträumt, Tage, bevor die Nachricht uns erreichte, er konnte sogar den ungewöhnlichen Sarg beschreiben. So fiel ein Abglanz vom Ruhm des Luftpioniers auch auf uns. Ich, Karl Kaiser, acht Jahre alt, war stolz auf den toten Onkel Bruno. Minnamartha rechnete ihn schon bei Lebzeiten zu jenen Familienmitgliedern, die »es geschafft hatten«.
Drei oder vier Passagiermaschinen täglich landeten aus westlicher Richtung in Tempelhof. Sie flogen über die Kolonie Tausendschön. Wenn Tante Friedl, mit ihrem lieblichen Bubikopf, herabgeschaut hätte, würde sie uns unten stehen gesehen haben, auf dem Platz vor Ernie Puvogels Kramladen:
Meine Mutter Minnamartha, füllig, in weißer Kittelschürze, die Arme unter der mächtigen Büste verschränkt. Vielleicht, aber das konnte die Tante da oben durch das Dröhnen von drei Sternmotoren natürlich nicht hören, klingelte gerade in der Schürzentasche meiner Muttter die Eieruhr, ein amerikanisches Modell, Geschenk Tante Friedls bei einem früheren Besuch. (Die Uhr, bis sechzig Minuten einstellbar, regelte seither Minnamarthas und unser Leben im strengen Klingelrhythmus.)
Neben Minnamartha: Mein Vater Ede Kaiser. Preußischer Kurzhaarschnitt, erkaltete Zigarre im Mundwinkel. Taxenbesitzer, und damit zur Klasse der Kleinunternehmer gehörend. »Ümmerhin!«, wie man in unserer aus dem Osten stammenden Großfamilie anerkennend einräumte.
Daneben ich, Karl Kaiser, Schüler,