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Nicht den Schnellen gehört im Wettlauf der Sieg, ... sondern jeden treffen Zufall und Zeit.
KOH 9, 11
Er balancierte auf den Stümpfen seiner amputierten Beine, hielt eine 9-mm-Pistole mit beiden Händen umklammert und schoss viermal auf eine Tür im Badezimmer in der obersten Etage seines Hauses. Es war die Toilettentür. Irgendjemand war dahinter.
Verwirrt und unter Schock stehend taumelte er auf die durchlöcherte Tür zu und versuchte, sie zu öffnen. Sie war verschlossen. »Oh Gott! Was habe ich getan?«, schoss es ihm durch den Kopf.
Seine Ohren waren noch so betäubt vom lauten Knallen seiner Schüsse, dass er seine eigenen Schreie nicht hörte. Er eilte durch einen schmalen Gang ins Schlafzimmer und stützte sich dabei an der Wand ab, um nicht umzufallen. Im Schlafzimmer öffnete er eine Schiebetür, die auf den Balkon hinausführte, und schrie: »Hilfe! Hilfe! Hilfe!« Seine Beinprothesen standen neben dem Bett. Er zog sie an, rannte ins Badezimmer zurück und versuchte vergebens, die Toilettentür einzutreten. Er schrie immer verzweifelter. Wieder rannte er ins Schlafzimmer. Nun schnappte er sich einen Kricketschläger, den er dort aufbewahrte, um sich im Falle eines Falles gegen Einbrecher wehren zu können. Er kehrte ins Badezimmer zurück und hieb mit aller Kraft auf die verriegelte Tür ein. Endlich gab eines der massiven Holzelemente nach, sodass er die Hand durch den entstandenen Spalt strecken und die Tür aufschließen konnte. Und da lag sie, seine Freundin, auf dem Boden zusammengesackt, ihr Kopf auf der Klobrille. Ihre blauen Augen blickten leer, Blut quoll aus ihrem Arm, ihrer Hüfte und ihrem Kopf. Sie bewegte sich nicht, aber vielleicht, so hoffte er, atmete sie noch. Der widerwärtige metallische Geruch, der von ihren Wunden aufstieg, raubte ihm fast die Sinne, doch er nahm all seine Kraft zusammen, um ihren glitschigen, blutverschmierten Körper von der Toilette zu heben. Durch die Finger seiner Hand, mit der er ihren Kopf stützte, sickerte Blut. Er legte ihren Körper auf den weißen Marmorboden im Bad und flehte Gott unter Tränen an, ihr Leben zu retten. Er griff nach einem Handtuch, beugte sich über sie und versuchte, die Blutung an ihrer Hüfte zu stillen. Doch während er völlig aufgelöst und verzweifelt auf ihren zertrümmerten Schädel und die leblosen Augen starrte, dämmerte ihm, dass selbst Gott angesichts der schrecklichen Kopfschusswunde nichts mehr ausrichten konnte – dieses Grauen konnte durch nichts wieder ungeschehen gemacht werden.
Es war Donnerstag, der 14. Februar 2013. Valentinstag. Die Schüsse wurden zwischen 3:12 Uhr und 3:14 Uhr abgefeuert. Sie fielen in einem Haus im Silver Woods Estate, einer bewachten Villensiedlung am Ostrand der südafrikanischen Hauptstadt Pretoria. Es gehörte dem »Blade Runner« Oscar Pistorius, dem weltberühmten 26-jährigen Sportler, der als erster behinderter Sprinter an den Olympischen Spielen teilgenommen hatte, dem »schnellsten Mann ohne Beine«. Er hatte die Schüsse abgefeuert. Sein Opfer war Reeva Steenkamp, 29 Jahre alt, Model und aufstrebender Star einer südafrikanischen Reality-TV-Serie. Durch ihren Tod erlangte sie über Nacht weltweit traurige Berühmtheit.
Um 3:19 Uhr griff Pistorius zum ersten Mal zum Telefon und rief seinen Nachbarn und Freund Johan Stander, den Manager von Silver Woods, an. Eine Aufzeichnung des Telefonats belegt, dass der Anruf 24 Sekunden dauerte. »Johan, bitte, bitte, kommen Sie zu meinem Haus«, schrie er. »Ich habe Reeva erschossen. Ich dachte, sie sei ein Einbrecher. Bitte, bitte, bitte, kommen Sie schnell.« Anschließend rief er den Notruf an. Dort riet man ihm, er solle versuchen, Reeva selbst ins Krankenhaus zu bringen. Als Letztes telefonierte Pistorius mit dem Wachdienst von Silver Woods. Alle drei Gespräche fanden in einem Zeitraum von fünf Minuten statt.
Stöhnend und schluchzend hob Pistorius in einem ungeheuren Kraftakt den blutüberströmten Körper seiner Freundin auf und trug sie auf seinen Armen aus dem Badezimmer über den Flur zu einer grauen Marmortreppe, wobei ihr Kopf leblos auf seiner Schulter hing. Die Pistole, mit der er geschossen hatte, war nicht mit normaler 9-mm-Munition geladen. Wäre dem so gewesen, hätte Reeva vielleicht noch eine Überlebenschance gehabt. Stattdessen enthielt ihr Magazin Dumdumgeschosse, die ihr Ziel nicht einfach nur durchschlagen, sondern