: Prinz Asfa-Wossen Asserate
: Die neue Völkerwanderung Wer Europa bewahren will, muss Afrika retten
: Ullstein
: 9783843714563
: 1
: CHF 7.30
:
: Sozialwissenschaften allgemein
: German
: 224
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die aktuelle Flüchtlingskrise ist vor allem den Ereignissen im Nahen Osten geschuldet. Dabei gerät eine langfristig viel bedrohlichere Entwicklung aus dem Blick: die Völkerwanderung Zehntausender Afrikaner nach Europa. Prinz Asfa-Wossen Asserate, einer der besten Kenner des afrikanischen Kontinents, beschreibt die Ursachen dieser Massenflucht und appelliert an die europäischen Staaten, ihre Afrikapolitik grundlegend zu ändern. Andernfalls werden es bald nicht Tausende, sondern Millionen von Flüchtlingen sein, werde diese größte Herausforderung Europas im 21. Jahrhundert in einer Katastrophe enden - für Afrika und Europa. Als langjähriger Afrika-Berater deutscher Unternehmen kennt Prinz Asserate die Missstände genau. Durch westliche Handelsbarrieren und Agrarprotektionen verliert Afrika jährlich das Doppelte dessen, was es an Entwicklungshilfe erhält. Zudem werden Gewaltherrscher hofiert. Gerade diejenigen, die der Kontinent für seine Entwicklung dringend braucht, kehren ihrer Heimat den Rücken und verschlimmern so die Situation vor Ort. Europa, so Asserate, muss Afrika als Partner behandeln und gezielt diejenigen Staaten unterstützen, die demokratische Strukturen aufbauen und in ihre Jugend investieren. Nur so kann es gelingen, den fluchtbereiten Afrikanern eine menschenwürdige Zukunft auf ihrem Kontinent zu ermöglichen.

Asfa-Wossen Asserate, geboren 1948 in Addis Abeba, lebt seit den 1970er Jahren als Unternehmensberater und Autor in Frankfurt/ Main. Er ist Großneffe des letzten äthiopischen Kaisers Haile Selassie, Urenkel der Kaiserin Menen II. und Sohn des ehemaligen Gouverneurs und Vizekönigs von Eritrea. Sein 2003 erschienenes Buch Manieren wurde zum Bestseller.

Kapitel 2


Das Erbe des Kolonialismus

»In ihrem Innern sind Afrika und Europa sich so unähnlich wie Elefant und Ameise«, schrieb der aus Somalia stammende Schriftsteller Nuruddin Farah.26 Afrika mit seinen 30,3 Millionen Quadratkilometern ist nach Asien der zweitgrößte Kontinent der Erde. Er ist doppelt so groß wie Indien und China zusammengenommen, und Europa fände zehnmal Platz darin. Afrika beherbergt heute etwa 16 Prozent der Weltbevölkerung – rund 1,2 Milliarden Menschen. Vor hundert Jahren waren es gerade einmal 120 bis 130 Millionen. Es gibt in den 54 Staaten Afrikas von heute Tausende verschiedener Ethnien, es gibt zweitausend Sprachen, die unterschiedlichsten Kulturen und viele verschiedene Religionen. Europa dagegen ist der zweitkleinste Kontinent. Er umfasst heute mit 740 Millionen Menschen rund zehn Prozent der Weltbevölkerung und verfügt doch nur über sechzig Sprachen. Das ist lediglich eine Momentaufnahme, denn nach den Erwartungen der Bevölkerungswissenschaftler wird das Verhältnis schon bald ganz anders aussehen: Im Jahr 2100, so die Prognosen, wird Europas Bevölkerung auf 650 Millionen geschrumpft sein, während Afrikas Bevölkerung fast um das Vierfache auf 4,4 Milliarden Menschen wächst. In Europa werden dann nur noch sechs Prozent der Weltbevölkerung leben, in Afrika 39 Prozent.27

Die Geschichte der Beziehungen zwischen Afrika und Europa ist lang. Zwei Jahrtausende war Afrika für Europa der »Kontinent des Abenteuers«. Seine Bewohner waren wahlweise »Primitive«, »Kannibalen« oder »edle Wilde«. Der Schriftsteller Rudyard Kipling sah die Europäer als Parade marschierender Stiefel, die über Afrika hinwegstampfen:»Foot – foot – foot – foot – sloggin’ over Africa / Boots – boots – boots – boots – movin’ up an’ down again!«28 Dass der riesige Erdteil Afrika über Jahrhunderte hinweg eine so geringe Bevölkerungszahl hatte, dafür ist nicht zuletzt Europa verantwortlich. Die europäischen Kolonialisten brachten den Afrikanern neue Krankheiten, gegen die sie keine Immunkräfte entwickeln konnten, wie etwa die Pocken, die Masern und die Cholera. In den Jahrhunderten des transatlantischen Sklavenhandels, vom 15. bis zum 19. Jahrhundert, legten arabische und europäische Sklavenhändler viele Millionen Afrikaner in Ketten und zwangen sie, ihren Kontinent zu verlassen.

Den Europäern verdankt Afrika sogar seinen Namen. Im Jahr 146 v. Chr. eroberten die Römer die Stadt Karthago, in der Nähe des heutigen Tunis, und wenig später gründeten sie dort die Provinz Africa. Deren Bewohner bezeichneten die Römer als Afra, nach dem Volk, das sie dort vorfanden. Die Afri, glauben Forscher heute, waren ein Berberstamm, der am Fluss Bagradas im heutigen Tunesien lebte. Im Lauf der Zeit wurde der Provinzname Africa von den Römern zuerst auf Nordafrika und schließlich auf den ganzen Erdteil ausgedehnt. Und während die Europäer den Kontinent, ohne zu differenzieren, als eine Einheit sahen, galt das für dessen Bewohner über die Jahrhunderte hinweg keineswegs. Sie identifizierten sich vor allem mit ihren Familien, Clans, Ethnien und Sprachgemeinschaften.

Europas »Schwarzer Kontinent«


Die Europäer wussten lange Zeit recht wenig über den afrikanischen Kontinent, und sie interessierten sich kaum für ihn – was sicherlich auch mit dessen Größe zu tun hat. Den Europäern der Antike und des Mittelalters war überhaupt nur ein Teil Afrikas bekannt. Für die Römer endeteaethiopia, das Land der »gebrannten Gesichter«, am zweiten Katarakt des Nils. Für die Europäer des Mittelalters wiederum markierte Kap Bojador an der Nordwestküste das Ende der Welt. Die Portugiesen waren die ersten Europäer, die an der Westküste Afrikas ankamen. 1487 »entdeckte« Bartolomeu Dias die Südspitze Afrikas und gab ihr den Namen »Kap der Stürme«. Zehn Jahre darauf, um die Jahreswende 1497/98, umrundete es Vasco da Gama und benannte es in »Kap der Gu