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Die Evolution der Kooperation
Und wenn sich diese Knappheit (von Ressourcen) nicht durch gemeinsame Tätigkeit lindern ließe, würde sich der Bereich der Gerechtigkeit nur auf die Vermeidung wechselseitig zerstörerischer Konflikte erstrecken und nicht auf die kooperative Erzielung von gegenseitigem Nutzen.
DAVID GAUTHIER,Morals by Agreement
Sozialität ist nicht unvermeidlich. Viele Organismen leben praktisch ein völlig einsiedlerisches Leben. Aber viele andere Organismen leben in Gesellschaft, typischerweise wenn sie sehr nah bei anderen ihrer Art bleiben, um soziale Gruppen zu bilden. Die evolutionäre Funktion dieser Gruppenbildung ist in erster Linie der Schutz vor Raubtieren. Eine solche Sozialität à la »Zusammen ist man weniger gefährdet« wird manchmal als Kooperation bezeichnet, da die Individuen sich mit anderen relativ friedlich zusammentun. Aber bei komplexeren sozialen Spezies kann sich die Kooperation auch in aktiveren sozialen Interaktionen manifestieren, wie beispielsweise altruistischer Hilfe und auf Gegenseitigkeit beruhender Zusammenarbeit.
Die gesteigerte Nähe des Soziallebens bringt eine gesteigerte Konkurrenz um Ressourcen mit sich. Bei sozialen Spezies müssen die Individuen täglich aktiv um Nahrung und Paarungspartner konkurrieren. Diese Konkurrenz kann auch zu körperlichen Angriffen führen, was für alle Beteiligten potentiell schädlich ist, und daher ein Statussystem hervorbringen, bei dem Individuen mit geringerer Kampffähigkeit denen mit größerer das überlassen, was diese haben wollen.
Damit sind wir bei den beiden grundlegenden Achsen der Tiersozialität angelangt (Abbildung 2.1): einer horizontalen Achse der Kooperation, die in den (großen oder geringen) Neigungen der Individuen gründet, sich anderen ihrer Art anzuschließen (oder gar mit ihnen zusammenzuarbeiten oder ihnen zu helfen); und einer vertikalen Achse der Konkurrenz, die auf der (großen oder geringen) Macht und Dominanz der Individuen im Kampf um Ressourcen beruht. Die grundsätzliche Herausforderung eines komplexen Soziallebens besteht darin, ein befriedigendes Gleichgewicht zwischen Kooperation und Konkurrenz zu finden.
Abbildung 2.1: Die beiden Dimensionen des Soziallebens bei komplexen Lebewesen
Innerhalb eines Darwinschen Rahmens erfordert die Konkurrenz natürlich keine besondere Erklärung, die Kooperation aber schon. So zu handeln, daß andere Vorteile davon haben, ist nur unter bestimmten Bedingungen eine stabile evolutionäre Strategie. Die erste Aufgabe in diesem Kapitel besteht deshalb darin, unter Verwendung des Prinzips der Interdependenz als Leitfaden zu untersuchen, wie die Kooperation in der Evolution im allgemeinen funktioniert. Anschließend nutzen wir diesen theoretischen Rahmen, um die Eigenart der Kooperation bei Gesellschaften von Menschenaffen im besonderen zu charakterisieren, und dies mit dem Ziel, die kooperativen Interaktionen des letzten gemeinsamen Vorfahrens von Menschen und anderen Menschenaffen vor etwa sechs Millionen Jahren als Ausgangspunkt für unsere Naturgeschichte der menschlichen Moral darzulegen.
Grundlagen der Kooperation
Die Kooperation hält für die Theorie der Evolution durch natürliche Auslese eine Vielfalt von Rätseln bereit. Nicht alle davon müssen wir hier lösen. Für den vorliegenden Zweck reicht es aus, nur diejenigen evolutionär stabilen Kooperationsmuster zu bestimmen, die für unsere Untersuchung