I. Geschichtliche Entwicklung der Lebensmittelüberwachung
Lebensmittelkontrolle – die Kontrolle der „Mittel zum Leben“ – ist in ihrer modernen Form vielleicht noch jung, ihre Wurzeln gehen aber bis in dieAltreiche der Babylonier und Ägypter zurück. Bereits der Kodex Hammurabi, eine umfangreiche babylonische Sammlung von Rechtstexten aus dem 17. Jahrhundert v. Chr., normierte eine Reihe drakonischer Strafen für Lebensmittelfalschungen bzw. eichrechtliche Verstöße.
Das Wort „Kontrolle“ hat seinen Ursprung in der Antike. Bei den damaligen Schiffstransporten wurde die Ladungsliste in Form einer Schriftrolle dem Schiffsführer mitgegeben. Eine gleiche Liste, so schreibtWalter Krebs in seiner Habilitationsschrift „Kontrolle von Verwaltungsentscheidungen“ (1984), die Gegenrolle „contra rutola“, wurde auf dem Landweg zum Ziel gebracht. Am Ort des Empfängers wurden Rolle und Gegenrolle mit der Ladung verglichen. Es wurde verglichen, es wurde kontrolliert.
Die Anfänge des deutschen Lebensmittelrechts lassen sich bis in dasMittelalter zurückverfolgen, wobei die Entstehung des Lebensmittelrechts mit dem Aufstieg der mittelalterlichen Städte einhergeht (instruktiv hierzuMettke, Kommentar zum LFGB, Behr’s Verlag, A 2, Ziffer 2). So beschloss beispielsweise die Stadt Köln im 14. Jahrhundert die Bekämpfung der „Weinpanscherei“, um den wachsenden Gefährdungen ihrer Bürger durch gesundheitsschädlichen Wein entgegenzuwirken. Regelungen zur Fleischgewinnung verfasste beispielsweise die Stadt Nürnberg mit einer frühen Verordnung zur Fleischhygiene. Die teilweise grausamen Strafen und autoritären Regelungen lassen den Schluss zu, dass Lebensmittelbetrügereien eine Konstante darstellen, deren Voraussetzungen eine mehrstufige Wertschöpfungskette und eine Anonymisierung der Lieferbeziehungen sind.
In den Vorarbeiten zum „Ersten reichseinheitlichen Nahrungsmittelgesetz“ (NMG), das unter Reichskanzler Bismarck im Jahre 1879 erlassen wurde, wurden Betrugstatbestände im Verkehr mit Lebensmitteln intensiv diskutiert. Kriminelle Verfälschungen von Lebensmitteln, z.B. von Mehl durch Gips oder Kreide, durch Pikrinsäure zum Ersatz von Eigelb in Teigwaren, aber auch Arsen in Stärkezukker oder Kleister, Kreide und Seifenlösung in Milch, gekochte Kartoffeln in Quark oder Bitterkleeauszug in Bier, scheinen im 19. Jahrhundert an der Tagesordnung gewesen zu sein. Entsprechend regelte das Nahrungsmittelgesetz im Zuge präventiven Vorgehens die polizeilichen Befugnisse für die Durchführung der Lebensmittelkontrolle und schuf weitgehende Verordnungsrechte des Bundesrates zum Schutze der Volksgesundheit.
Das NMG behandelte den Verkehr mit verdorbenen, nachgemachten oder kontaminierten Lebensmitteln, wurde aber bald als unzureichend angesehen, da es nicht über ein allgemeines Irreführungsverbot verfügte. In der Folge erarbeitete das Reichsgesundheitsamt ein novelliertes Gesetz über den Verkehr mit Lebensmitteln und Bedarfsgegenständen, das zum 1.10.1927 in Kraft trat und neben den Detailregelungen das Angebot irreführender Produkte generell sanktionierte.
Weitere Reformen führten im Jahre 1974 schließlich zum Gesetz zur Neuordnung und Bereinigung des Rechts im Verkehr mit Lebensmitteln, Tabakerzeugnissen, kosmetischen Mitteln und sonstigen Bedarfsgegenständen (LMBG), welches die Eingriffsmöglichkeiten des Staates zum Schutz der Verbraucher vor Gesundheitsschäden und Irreführungen weiter erhöhte. Erstmalig wurden darüber hinaus spezielle Regelungen zur Werbung für Lebensmittel eingeführt, beispielsweise das Verbot krankheitsbezogener Werbung oder das Verbot für Tabakwerbung in Hörfunk und Fernsehen. Das LMBG ist unmittelbarer Vorläufer desLFGB, das in Deutschland im Jahre 2005 in Kraft trat und bis heute gilt.
Das LFGB ist seinerseits Ausdruck eines grundlegendenNeuansatzes im Lebensmittelrecht, welcher – ausgelöst durch die Irritation, ja geradezu den Schock derBSE-Krise – erforderlich schien, um verlorenes Verbrauchervertrauen wieder aufzubauen. Dabei war man sich des Umstandes bewusst geworden, dass Lebensmittelkrisen der Neuzeit häufig ihren Ausgangspunkt auf der Agrarstufe haben. Ein integrierender Ansatz, der die gesamte Lebensmittelkette einbezieht („from farm to fork“ – „from stable to table“), lag damit nahe.
Beeindruckend ist die Bestandsaufnahme der Europäischen Kommission in ihremWeißbuch zur Lebensmittelsicherheit vom 12.1.2000, wo es heißt (vgl. dort auf Seite7 unter Ziffer 2.):
„Die Agrar- und Ernährungsindustrie ist für die europäische Wirtschaft insgesamt von besonderer Bedeutung. Mit einer Jahresproduktion im Werte von annähernd 600 Mrd. EUR bzw. etwa 15% des gesamten produzierenden Gewerbes zählt die Lebensmittel- und Getränkeindustrie zu den führenden Wirtschaftszweigen der Europäischen Gemeinschaft. Im internationalen Vergleich erweist sich die EU als weltweit größter Lebensmittel- und Getränkeerzeuger. Unter den Industriezweigen steht die Ernährungsindustrie an dritter Stelle, was die Zahl der Arbeitsplätze betrifft: hier sind über 2,6 Millionen Menschen beschäftigt, davon 30% in kleinen und mittleren Unternehmen. Was die Landwirtschaft betrifft, so hat ihre Jahresproduktion einen Wert von etwa 220 Mrd. EUR, und die landwirtschaftlichen Arbeitsplätze entsprechen 7,5 Millionen Vollzeitstellen. Die jährliche Ausfuhr an landwirtschaftlichen Erzeugnissen, Lebensmitteln und Getränken hat einen Wert von etwa 50 Mrd. EUR. Diese wirtschaftliche Bedeutung wie auch die Tatsache, dass wir in unserem Alltag praktisch ständig mit Lebensmitteln zu tun haben, belegen, dass die Lebensmittelsicherheit sowohl für die Gesellschaft insgesamt als auch und vor allem für Behörden und Erzeuger von höchstem Interesse sein muss.“
Im Weiteren betont die Europäische Kommission in ihrem Weißbuch, dass die europäische Lebensmittelherstellungskette weltweit zu den sichersten zählt und dass die bestehenden Systeme im Allgemeinen gut funktionieren. Diezunehmende Verflechtung der Volkswirtschaften innerhaib des Europäischen Binnenmarktes, dieWeiterentwicklungen in der Landwirtschaft und in der Lebensmittelverarbeitung, ebenso wieneu entstehende Handhabungs- und Vertriebsformen forderten aus Sicht der EU-Kommission jedoch einenneuen konzeptionellen Ansatz.
So schuf die Kommission – klarstellend – eine Verteilung der Verantwortung für die Lebensmittelsicherheit zwischen den beteiligten Akteuren, wonach dieHauptverantwortung für die Lebensmittelsicherheit bei den Futtermittelerzeugern, den Landwirten und denLebensmittelunternehmen liegt. In diesem Zuge wurde eine Pflicht der Lebensmittelunternehmer zur Gefahrenanalyse und konzeptionellen Bewältigung identifizierter Gefahren eingeführt (s. Näheres hierzu unter IV. Hygienekonzepte und HACCP, S.15 ff.). Die zuständigen Behörden sorgen mittels nationaler Überwachungs- und Kontrollsysteme dafür, dass diese Verantwortung auch wahrgenommen wird. Die Europäische Kommission sieht es als ihre Aufgabe an, im Wege von Prüfungen undInspektionen in den Mitgliedstaaten festzustellen, ob die zuständigen Behörden in der Lage sind, diese Systeme zu betreiben. Aber auch die Verbraucher werden dahingehend in die Pflicht genommen, dass sie ihrerseits ein Bewusstsein für die sachgemäße Lagerung, Handhabung und Zubereitung von Lebensmitteln zu entwickeln haben. Auf diese Weise soll der Grundsatz „vom Erzeuger zum Verbraucher“, der sämtliche Stufen der Lebensmittelwertschöpfungskette einschließt, systematisch und konsequent umgesetzt werden.
Entsprechend zieht die im Nachgang zum Weißbuch erlassene Verordnung (EG) Nr. 178/2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts (EU-Lebensmittel-Basisverordnung) in ihrer 30. Begründungserwägung den Schluss:
„Der Lebensmittelunternehmer ist am besten in der Lage, ein sicheres System der Lebensmittellieferung zu entwickeln und dafür zu sorgen, dass die von ihm gelieferten Lebensmittel sicher sind; er sollte daher auch die primäre rechtliche Verantwortung für die Gewährleistung der Lebensmittelsicherheit tragen.“
Wichtig – und grundlegend neu – ist die Definition des europäischenLebensmittelsicherheitsbegriffes gemäß Art. 14 der EU-Lebensmittel-Basisverordnung. Danach sind „unsichere Lebensmittel“ (die nicht in den Verkehr gebracht werden dürfen) Produkte, bei denen davon auszugehen ist, dass sie entweder gesundheitsschädlich sind oder „für den Verzehr durch den Menschen ungeeignet“, also (relevant) qualitativ beeinträchtigt sind. Damit geht der Sicherheitsbegriff über die Abwehr von Gesundheitsgefahren hinaus und erfasst auch Fragen der Qualität. Es fragt sich, ob und inwieweit der (allein) aus dem deutschen Recht bekannte Begriff der „Ekelerregung“ (ohne stoffliche Beeinträchtigung) in der Struktur des...