: Mano Bouzamour
: Samir, genannt Sam
: Residenz Verlag
: 9783701745319
: 1
: CHF 13.50
:
: Romanhafte Biographien
: German
: 296
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Temporeich, authentisch und unverschämt erzählt Mano Bouzamour von einer Jugend im Einwandererviertel von Amsterdam. Auf einem gestohlenen Flügel spielt Samir, genannt Sam, morgens klassische Musik, beim Freitagsgebet in der Moschee kämpft er mit Fantasien von blonden, nackten Teufelinnen, im Geschichtsunterricht träumt er von Rache für die mutige Anne Frank, am glücklichsten ist er jedoch, wenn er nachts mit seinem geliebten Bruder auf der Vespa durch Amsterdam brausen darf. So wächst Sam als Sohn marokkanischer Einwanderer im bunten De-Pijp-Viertel heran, bis sein großer Bruder, der von Betrug und Diebstahl lebt, verhaftet wird und für sechs Jahre in den Knast muss. Doch Sam verspricht ihm, allen Widerständen zum Trotz den Schulabschluss im bürgerlichen Elitegymnasium zu schaffen, und meistert ein Leben voller Kontraste mit viel Witz und Frechheit.

Mano Bouzamour, geboren 1991 in Amsterdam. Er studiert Geschichte und lebt als Klaviervirtuose und Autor in Amsterdam. 'Samir, genannt Sam' ist sein autobiografischer Debütroman. Das Buch wurde in den Niederlanden als Roman einer neuen, urbanen Generation gefeiert, der Stoff wurde für Film, Theater und Hörspiel bearbeitet. Bouzamour schreibt jede Woche eine vieldiskutierte Kolumne in der Tageszeitung Het Parool.

Prolog


Mann, Maria voller Gnade, ich darf aufs Gymnasium, verdammt noch mal. Mein Bruder und ich liefen gut gelaunt zwischen rauchenden Jugendlichen die Eingangstreppe der Schule hinunter, wo ich gerade mein Kennenlerngespräch geführt hatte. Weil meine bescheuerte Grundschullehrerin mir nur eine Hauptschulempfehlung gegeben hat, obwohl ich laut Abschlusstest fürs Gymnasium geeignet bin, sollte ich mit einem Elternteil zum Gespräch kommen. Dann wollten sie entscheiden, ob ich aufs Gymnasium durfte oder nicht. Wie immer bei Schulgesprächen war mein Bruder dabei.

Eine Niederländischlehrerin nahm mich ins Kreuzverhör. Hätte nur noch gefehlt, dass sie mich an den Stuhl fesselt. Eine Dreiviertelstunde später schloss sie mit der Frage: »Versprichst du mir, dir wirklich Mühe zu geben, wenn du hier bei uns einen Platz bekommst?«

»Aber selbstverständlich.«

Sie hatte zu meinem Bruder geschaut, der neben mir saß.

»Sie haben das auch gehört? Sehr schön. Dann habe ich ja einen Zeugen. Sorgen Sie dafür, dass er Wort hält?«

»Wie ein Gefängniswärter, da können Sie ganz beruhigt sein. Die nächsten sechs Jahre gehört er mir.«

Mein Bruder legte mir seine warme Hand in den Nacken. Wir überquerten die Straße und gingen zu Soussi, dem engsten Freund meines Bruders, der auf dem Bürgersteig auf uns wartete. Er saß auf seiner eigenen Vespa, die Füße aber hatte er auf den Roller meines Bruders gestellt. Mein Bruder flüsterte: »Tu so, als wärst du ganz geknickt«, und dann rief er Soussi zu: »Nimm die Flossen von meinem Roller!«

Soussi sprang auf, als er uns sah. Er sprach platteren Amsterdamer Dialekt als der Schlagersänger André Hazes. »Hier an der Schule laufen echt klasse Weiber rum, Alter. Und? Was hat se gesagt? Wie lief’s? Haste nen Platz gekriegt?«

Ich spielte mit dem Schirm meiner verkehrt herum aufgesetzten roten Lacoste-Kappe, aus der meine Tolle wie eine hohe Welle aufragte, seufzte tief und sagte: »Nee, Mann.«

»Nee? Echt jetz?« Er sah meinen Bruder an: »Soll ich denen mal Bescheid stoßen? Willste das? Ich geh da gleich mal rein, mir doch egal, das macht mich noch ganz meschugge!«

Soussi klappte die Sitzbank seines Rollers hoch, steckte den Kopf halb ins Staufach und wühlte darin herum.

Mein Bruder fragte: »Was hast du vor? Dem Direktor ins Bein schießen?«

»Wenns sein muss.«

»Ach, hör doch auf.«

»Es sind doch alles nur miese Faschos. Wäre ich bloß mitgekommen, aber nee: ›Wart mal kurz‹, war die Ansage. Ihr schämt euch wohl für mich!«

»Sam hat einen Platz bekommen.«

Soussi schaute auf.

»Echt?«

Ich nickte eifrig.

»Wusst ichs doch! Ich hab euch gleich durchschaut. Komm mal her, Kleiner.« Er umarmte mich und sagte: »Das muss gefeiert werden, gehn wir Eis essen?« Soussi schielte schelmisch auf eine Gruppe fröhlich hüpfender Sommerkleider, wahrscheinlich Abiturientinnen, angesichts der Tatsache, dass sie über alle weiblichen Attribute verfügten. »Kannste gleich mal mit dem Eis üben, hier an der Schule wirste die nächsten Jahre garantiert ne Menge lecken, das sag ich dir.«

»Bäh«, sagte ich.

»Der muss die nächsten Jahre einen Keuschheitsgürtel tragen. Dann kann er sich auf die Schule konzentrieren, stimmt’s, Sam?«

Soussi ignorierte meinen Bruder und schaute mich an: »Bäh? Magst du kein Eis?« Jetzt erst wandte er sich an meinen Bruder: »Dir sollte man sonen Keuschheitsgürtel oder was umschnallen. Möchte ja gern wissen, wann dein Schwanz mal schlappmacht.«

»Dafür sollte man dich lebenslang in eine Zwangsjacke stecken, Soussi. In die Geschlossene gehörst du, aber echt. Du wolltest dich gerade an einer unschuldigen Lehrerin vergreifen.«

»Keiner ist unschuldig. Lehrer schon gar nicht. Wozu wären sie sonst Lehrer? Für Sam ist son Keuschheitsgürtel trotzdem ne geile Idee.«

»Mann, du bist so versaut«, sagte mein Bruder.

»Selber.«

»Kein Wunder, dass du immer nur deine rechte Hand vögelst.«

»Du kennst mich schon dein ganzes mickriges Leben, du Penner, ich wichse mit links. Aber jetz mal Klartext, wo geht’s hin? Pisa oder Venezia?«

»Sam darf es sich aussuchen, heute ist sein Tag.«

»Fahr bei mir mit, kleiner Tiger«, sagte Soussi, »erzähl ich dir ne krasse Geschichte von deiner zukünftigen Schule.«

Ich stieg hinten auf und sagte: »Bei Venezia schmeckt es ekelhaft. Ich will zu Pisa.«

Während wir über den Stadionweg fuhren, drehte sich Soussi immer wieder zur Seite und erzählte mir, im Zweiten Weltkrieg sei der Direktor des Hervormd Lyceum Zuid ein mieser Landesverräter gewesen, ein Faschist. Und dass ich aufpassen sollte, vielleicht wäre der jetzige Direktor ja sein Enkel.

»Weißte, was du machst? Du findest raus, ob ers is, und wenn ja, dann fackeln wir sein Auto ab. Mit ihm drin, logo.«

Soussi war der Geschichtsexperte schlechthin und total fasziniert vom Zweiten Weltkrieg. Er arbeitete schon seit Jahren für einen bekannten Händler auf dem Albert-Cuyp-Markt. Sein Chef, Benjamin der Jude, erzählte ihm bei der Arbeit faszinierende Geschichten über den Holocaust.

Soussi war ein Marokkaner, der aussah wie ein Neger. Seine Eltern kamen aus Ouarzazate, der Hauptstadt der Provinz Ouarzazate im Süden Marokkos, wo die Sonne die Bevölkerung schwarzgebrannt hat und sich die großen Filmstudios befinden. Viele Hollywood-Regisseure haben ihre Wüstenszenen dort gedreht. Soussis vier Lieblingsfilme,Gladiator,Königreich der Himmel,Lawrencevon ArabienundStar Warssind alle dort entstanden. Manchmal frage ich mich, ob es auch seine Lieblingsfilme wären, wenn man sie woanders gedreht hätte. Egal.

Hin und wieder lugte Soussis neues Tattoo aus dem Kragen seines Ajax-Trikots heraus: »Mokums Stolz« – Mokum ist der jüdische Spitzname von Amsterdam.

Soussi hatte einmal gesagt: »Mokum liegt mir mehr am Herzen als meine eigene Mutter.«

Zum Spaß sagte er, dass er sich die drei kleinen Kreuze des Stadtwappens, die auch auf den Straßenpollern waren, auf den Schwanz tätowieren lassen wolle. Damit die Mädchen, die er vögelte, gleich wüssten, mit wem sie es zutun hatten.

Beim Hotel Okura in der Ferdinand Bolstraat fuhren wir neben meinem Bruder her. Tapfer und unerschrocken saß er auf seiner roten Vespa. In seinem flatternden T-Shirt von D&G, das sich aber straff um den Bizeps legte. Wegen der strahlend hellen Sonne sah man Reliefs auf seinen muskulösen Armen; Schatten, die alle Konturen betonten und gut zur Geltung brachten. Sogar seine Hände waren sehnig. Das lag daran, dass er so viel auf unserem Flügel spielte. An einem Handgelenk hing eine Ansammlung von Armbändern, am anderen eine Uhr, die funkelte wie die Lichtspiegelungen auf der Amstel. Es war eine speziell für Tiefseetaucher entworfene Rolex Submariner aus Gold und Stahl. »Schack Kusto-Uhr« nannte Soussi sie, gefolgt von »Wusstest du schon …?« Und dann erzählte er, dass Kusto nach dem Zweiten Weltkrieg die von den Moffen heimlich als Geschenk für die Alliierten in den französischen Häfen verteilten Seeminen, die nicht explodiert waren, entschärft hatte.

Mein Bruder arbeitete bei Hello Sushi, in einer Seitenstraße des Albert-Cuyp-Markts. Wegen der ununterbrochenen Zufuhr schöner Mädchen, die er zum Essen dorthin zitierte, war sein Chef ganz versessen auf ihn und trug sich schon mit Expansionsplänen. Bei Sushi drehen die Mädchen einfach durch.

Von seiner Schicht brachte mein Bruder immer kistenweise Essen mit: California Rolls, scharfe Thunfisch-XL-Rollen, Lachs Teriyaki, Edamame Bohnen und knusprige Handrollen mit Tempura-Garnele.

Mit erhobenem Kinn fuhr er durch Amsterdam, als würde die Stadt ihm gehören. Hin und wieder zwinkerte er mir zu. Dann blinzelte ich zurück, total verkrampft und überhaupt nicht so mühelos wie er. Alles, was mein Bruder machte, wirkte lässig und ging mit einer ordentlichen Portion Selbstbewusstsein einher: wie er fremde Mädchen anquatschte, wie er seine Freunde im Griff hatte, schwierige Fragen beantwortete, Roller fuhr, ja, sogar wie er zu Fuß ging! Ich imitierte ihn so gut wie möglich, doch es wollte mir einfach nicht gelingen. Ab und zu blies er mir ein Kusshändchen zu, das ich krampfhaft abwehrte.

Bei der Brücke über die Jozef Israëlskade stand ein alter Mann und fütterte Tauben. Er trug einen schäbigen Wintermantel, obwohl es...