: Barbara Frischmuth
: Der Sommer, in dem Anna verschwunden war Roman
: Aufbau Verlag
: 9783841211996
: 1
: CHF 6.70
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 364
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Anna ist verschwunden, weder ihr Mann noch ihre Kinder oder Freunde können es sich erklären. Ist ihr ein Unglück geschehen, oder hat sie sich davongestohlen, um ein bißchen Leben nachzuholen? Aus den mal irritierten, mal sorgenvollen, mal ironischen Stimmen von vier Beteiligten entsteht das lebendige Bild einer Frau, die auf ihrem Glücksanspruch beharrt. Anna hat immer alles auf eine Karte gesetzt, besonders wenn es um Liebe ging. Wegen Ali, der aus seinem Land hatte fliehen müssen, brach sie sogar ihr Studium ab. Obwohl es die Familie nicht leicht hatte, schien Anna glücklich. Doch eines Tages ist sie verschwunden. Ali und die beiden Kinder warten, suchen, sind verzweifelt. Langsam jedoch richten sie sich wieder im Alltag ein, und jeder versucht, mit dem Unerklärlichen fertigzuwerden. Manchmal kommt es ihnen so vor, als hätte Annas Verschwinden einen Krater aufgerissen, aus dessen Abgrund Erinnerungen und Vermutungen auftauchen. Barbara Frischmuth überrascht wieder einmal durch die vitale Schilderung beeindruckender Frauengestalten. Raffiniert und höchst gekonnt läßt sie aus verschiedenen Stimmen ein lebendiges Bild der Verschwundenen erstehen, einem Wesen aus Eis und Glut, wie es heißt.

Barbara Frischmuth, 1941 in Altaussee (Steiermark) geboren, studierte Türkisch, Ungarisch und Orientalistik und war seitdem freie Schriftstellerin. Sie starb am 30. März 2025.

Nach ihrem von der Kritik hochgelobten Debüt »Die Klosterschule« und dem Roman »Das Verschwinden des Schattens in der Sonne« wurde sie vor allem mit der zauberhaften und verspielten Sternwieser-Trilogie bekannt, der die Demeter-Trilogie folgte. Neben weiteren Romanen wie »Die Schrift des Freundes«, »Der Sommer, in dem Anna verschwunden war«, »Vergiss Ägypten«, »Woher wir kommen« und »Verschüttete Milch« veröffentlichte sie u. a. Erzählungen und Essays. »Der unwiderstehliche Garten« war das vierte ihrer literarischen Gartenbücher.

Emmi


Die Sonntage waren immer am schlimmsten. Was Wunder, daß da plötzlich eine Frau im Baum hing, mit den Beinen zappelte und um Hilfe schrie.

Es war der Sonntag, an dem Inimini zum ersten Mal ihr Kopftuch trug. Ali und Omo hatten den Mund noch nicht zugekriegt, da kam diese Person und versaute Inimini den Auftritt. Dazu kreischten die Vögel, als hätte die Katze sie am Schwanz gepackt, und der Wind legte die Grashalme flach.

»Völlig daneben, die Frau«, maulte Inimini und schleppte geistesgegenwärtig eine Leiter an. Die Zapplerin fand Halt und stieg, mit dem Rücken zur Welt, Sprosse für Sprosse auf die Erde herab.

Ali und Omo stand der Mund noch immer offen. Als die Frau sich schließlich umdrehte und ihren Rock zurechtschob, merkten sie, daß es Irene war.

Inimini schien kurz daran zu denken, Irene die Hand zu küssen, wie es die Töchter von Haluk getan hätten. Um sich Mut zu machen, griff sie rasch nach dem verrutschten Kopftuch, aber das Kopftuch sprach nicht zu ihr, und so sagte sie einfach, was ihr auf der Zunge lag. »Spinnst du?« Man konnte sehen, wie sie sich dabei entspannte. »Was hast du bloß in aller Früh auf unserem Baum zu suchen?«

»Auf meinem Baum.« Durch den Nachdruck war der Sachverhalt ein für alle Male klargestellt. Irene kam langsam näher. »Ich wollte euch sehen, bevor ihr mich seht.« Sie trug das Haar in einem sanften Puderton gefärbt, der wohl die Kerben in ihrem Gesicht mildern sollte. Ansonsten wirkte sie noch recht passabel, wie Emmi von ihrem Fenster aus beobachten konnte, zumindest figurmäßig.

Ali besann sich auf seine Herkunft und ging auf Irene zu. »Willkommen, herzlich willkommen, Irene hanım!« Er legte ihr die Hände auf die Schultern und drückte seine Bartstoppeln an ihre Wangen.

Nur Omo tat, als gehe ihn das alles nichts an. Es sah ganz so aus, als wäre er dabei, sich im Schatten der Begrüßungsszene aus dem Staub zu machen, als Irenes Stimme ihn lauthals traf.

»Ist das Onur? Ich traue meinen Augen kaum.« Irene war die einzige, die Onur mit seinem richtigen Namen anredete. Für alle anderen war er Omo, schneeweiß und blitzblank, mit waschblauen Augen und bierhellem Haar, der kleine Wikinger eben.

»Komm schon!« flötete Irene, auf einmal ganz Großmutter.

Omo blieb stehen, wie in die Erde gerammt, und Irene ging um ihn herum. Zum Glück kam sie nicht auf die Idee, ihn zu küssen. Sie hätte sich dazu auf die Zehenspitzen stellen müssen, so stocksteif, wie Omo sich ihr gegenüber hielt.

»Und was jetzt?« Inimini hatte ihr Kopftuch wieder in die richtige Fasson gebracht, und Irene schien endlich zu begreifen, was sie sah. Inimini war kein Kind mehr. Sie trug einen langen Rock, dazu einen Pulli, und das Kopftuch bedeckte auch noch ihre Schultern. Sie wirkte winzig, geradezu ergreifend, und dennoch so gut wie erwachsen. Anstelle eines Busens zeichneten sich zwei Knöpfe von der Größe eines Aspirins auf ihrer Vorderseite ab, und ihre Augenbrauen verliefen in einem so makellosen Bogen, daß sie lange daran gezupft haben mußte.

Eine Nachricht nach der anderen bahnte sich den Weg durch Irenes Lidspalten in Irenes Gehirn. Sie schüttelte sich, als ließe sich so das Erkannte besser im Kopf verteilen, machte einen Schritt und antwortete, als niemand mehr mit einer Antwort gerechnet hatte: »Ich habe eigentlich an Frühstück gedacht.«

»Aber klar …« Ali war wi