Vier Anmerkungen in Gestalt eines Prologs
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Im Juli 2012 beschloss ich, dieses Buch zu schreiben. Ich hatte damals gerade von dem Attentat gelesen, das während der Premiere des jüngsten Batman-Films in einem Kino in Colorado verübt worden war. Von einer Mischung aus Widerwille und perverser Faszination hatte ich mich schon oft dazu verführen lassen, geradezu begierig über derartige Massenmorde zu lesen, wie sie heutzutage überall und andauernd stattzufinden scheinen – insbesondere in den Vereinigten Staaten von Amerika. Doch erst als ich von James Holmes und dem Massaker in Aurora las, beschloss ich, über dieses Thema auch zu schreiben. Es war nicht etwa die Gewalt und Absurdität eines Landes, in dem einfach alle nach Belieben Schusswaffen erwerben können, ganz unabhängig davon, ob sie psychische Probleme haben oder nicht. Daran haben wir uns längst gewöhnt. Was mich am meisten faszinierte, war die metaphorische Dichte einer Tat, die die Trennung zwischen Spektakel und echtem Leben (oder echtem Sterben, was dasselbe ist) aufzuheben schien. James Holmes hatte vermutlich nie Guy Debord gelesen. Wir handeln oft, ohne die Texte zu unserem Handeln gelesen zu haben. Dennoch hatte Holmes’ Auftritt etwas Situationistisches. Die gesamte Geschichte der Avantgarde des 20. Jahrhunderts wurde hier auf einen einzigen Punkt zusammengeführt und auf schreckliche Weise neu inszeniert. »Weg mit der Kunst, weg mit dem Alltag, weg mit der Trennung zwischen Kunst und Alltag« forderten die Dadaisten. Holmes, so wurde mir plötzlich klar, wollte die Trennlinie zwischen Betrachter und Film aufheben. Er wollteTeil des Films sein.
Und so begann ich, wie getrieben über dieses Attentat zu lesen. Mein Interesse führte mich schon bald zu noch ganz anderen Geschichten ganz anderer Männer (weißer, schwarzer, alter, junger, reicher, armer Männer, ausschließlich jedoch zu den Geschichten andererMänner, zu keiner einzigen Geschichte nur einer einzigen Frau – wer weiß schon, warum?), die wahllos Menschen erschossen hatten, und bald darauf begann ich, noch andere Massenmorde zu recherchieren, die viel früher stattgefunden hatten. Diese Nachforschungen brachten mich zu der Erkenntnis, dass sich das Werden unserer heutigen Welt sehr viel besser begreifen lässt, wenn man sich genauer mit derlei fürchterlichen Wahnsinnstaten auseinandersetzt, anstatt sich ausschließlich mit dem sehr beherrschten Wahnsinn unserer Ökonomen und Politiker zu beschäftigen. Ich betrachtete die Qualen des Kapitalismus und den langsamen Untergang der sozialen Zivilisation und betrachtete sie vor einem sehr speziellen Hintergrund: dem des Verbrechens und des Selbstmords.
Die ganze, nackte Wirklichkeit des Kapitalismus liegt heute offen vor uns. Und sie ist schrecklich.
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Dieses Buch handelt jedoch nicht nur von Verbrechen und Selbstmorden, sondern ganz grundsätzlich von der Errichtung eines nihilistischen Königreiches und von dem suizidalen Trieb, der gemeinsam mit einer Phänomenologie der Panik, Aggression und folglich auch Gewalt die Kultur unserer Zeit durchdrungen hat. Dies ist die Prämisse, unter der ich das Phänomen Massenmord betrachte, wobei ich mich besonders auf die »spektakulären« Implikationen und auf die suizidale Dimension dieser Mordtaten konzentrieren werde.
Dabei interessiere ich mich nicht etwa für den gewöhnlichen Serienmörder, also jenen nur heimlich sadistischen Psychopathen, der sich für das Leid anderer