: Ismail Kadare
: Die Dämmerung der Steppengötter Roman
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104901831
: 1
: CHF 10.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 208
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ismail Kadare, Albaniens berühmtester Autor und seit Jahren Anwärter auf den Literatur-Nobelpreis, war Ende der 50er Jahre Student am berühmten Maxim-Gorki-Literaturinstitut in Moskau. In dieser Zeit wurde er Zeuge der beispiellosen Hetzkampagne in allen Medien gegen Boris Pasternak, der den Nobelpreis nicht entgegennehmen durfte. Illusionslos zeichnet Ismail Kadare ein Bild der Schriftsteller aus allen Teilen des großen Sowjetreichs, denen er im Rahmen seines Studienaufenthaltes am Maxim-Gorki-Institut begegnete. Zu seiner bodenlosen Enttäuschung trifft er überwiegend auf Konformisten, ultraloyale Schmeichler, frustrierte Sozialisten und korrupte Informanten. Die eigenartige Stimmung aus Beklemmung, Misstrauen und gegenseitger Bespitzelung unter den Studenten fängt er in zum Teil surreal anmutenden Szenen ein. Gesteigert wird die klaustrophobische Atmosphäre noch durch den Ausbruch einer Epidemie, die zu einer vollständigen Quarantäne führt. Ein Sinnbild der politischen Isolation, in der sich die Sowjetunion nach der Tauwetterperiode unter Chruschtschow befindet, und ein ahnungsvoller Vorgriff auf die Isolation Albaniens nach der Loslösung vom »Großen Bruder«. »Ismail Kadare hat mehr über das 20. Jahrhundert und seine Dunkelheit zu erzählen als jeder andere zeitgenössische Autor.« Daniel Kehlmann

Ismail Kadare, Albaniens berühmtester Autor, wurde 1936 im südalbanischen Gjirokastra geboren. Er studierte Literaturwissenschaften in Tirana und Moskau. Seine Werke wurden in vierzig Sprachen übersetzt, er galt jahrelang als Anwärter auf den Literaturnobelpreis. 2005 erhielt Kadare den Man Booker International Prize. 2015 wurde er mit dem Jerusalem Prize ausgezeichnet. Er war Mitglied der französischen Ehrenlegion und lebte zuletzt in Tirana und Paris. Er starb 2024 in Tirana.

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Wir spielten fast bis um Mitternacht am Meer Pingpong, es war hell genug dafür, auch wenn die weißen Nächte bereits hinter uns lagen. Die letzten Matches nach halb zwölf bestritten die Spieler mit den besten Augen, während der Rest von uns an das hölzerne Geländer gelehnt zuschaute und korrigierend eingriff, wenn einer beim Punktestand mogelte. Nach vierundzwanzig Uhr, wenn alle weggegangen waren und nur noch die Tischtennisschläger auf der Platte lagen, die wir am nächsten Morgen häufig naß vom nächtlichen Regen vorfanden, wußte ich oftmals nichts mit mir anzufangen. Weil mir die nötige Bettschwere fehlte, ging ich noch eine Weile spazieren, umrundete den kleinen Park, in dem die Gebäude des Erholungsheims, die einst einem lettischen Baron gehört hatten, standen, schlenderte zu dem Springbrunnen mit den Delphinen, drehte dann um und ging zurück zum Schwedischen Haus, um schließlich am Ufer der Ostsee zu landen. Es war schön am Wasser, aber nachts auch sehr kalt, so daß man sich nicht lange dort aufhalten konnte.

Dieses Programm wiederholte sich fast jeden Abend. Bei schönem Wetter gingen die Tage mit Schwimmen und Sonnenbaden schnell herum, aber die Nächte waren eintönig, weil die meisten der Erholungsuchenden sich bereits im fortgeschrittenen Alter befanden. Fast alle trugen prominente Namen und bedeutende Titel, aber abends ging es trotzdem langweilig zu. Außerdem war ich der einzige Ausländer.

Kurz vor Einbruch der Dunkelheit begaben wir uns an den Strand und drehten eifrig an den Objektiven unserer Fotoapparate, um die im Meer versinkende Sonne auf Zelluloid zu bannen. Jeden Abend nahm die Wasserfläche eine andere Farbe an, und wir bemühten uns sehr, den stetigen Wechsel der Sonnenuntergänge getreulich festzuhalten. Gelegentlich geriet ein Pärchen, das am Ufer spazierenging, ungewollt vor das Kameraauge, erschien jedoch auf dem Bild, wenn wir es entwickelten, nur als kleiner, in dieser ganzen Weite unbedeutender Fleck. Nach dem Abendessen versammelten wir uns regelmäßig an der Tischtennisplatte, wo ich, das Hin und Her des kleinen weißen Balles beobachtend, bald merkte, wie allmählich mein ganzes Ich unter den Einfluß dieser stetigen Bewegung geriet. Der hypnotisierenden Wirkung zu widerstehen, war trotz aller Anstrengungen fast unmöglich, und nur in knappen Momenten des Aufbegehrens konnte ich mich der Knechtung durch die Plastikkugel entziehen, in deren raschen, klackenden Hüpfern auf der Platte ich etwas Idiotisches entdeckte. In solchen kurzen Phasen der Besinnung wandte ich den Blick jedesmal in einer gleichsam somnambulen Bewegung dem Strand zu, in der schwachen Hoffnung, dort etwas zu entdecken, das sich von dem am Abend zuvor Beobachteten unterschied. Doch in der Dämmerung war das Meeresufer unerbittlich. Es bot sich nur das wahrscheinlich seit der Entstehung der Erde immer gleiche Bild: Silhouetten langsam dahinschreitender Paare. Sie kamen vermutlich aus anderen Erholungsheimen und passierten unser Haus auf dem Weg zu geheimnisumwobenen Stränden, die ihre komisch klingenden, absonderlich betonten Namen von den Haltestellen der elektrischen Vorortzüge hatten: Dzintari, Majori, Dubulti … Ich war diesen Namen schon vorher begegnet: auf Parfümflaschen und Cremedosen in den Auslagen der Geschäfte anderer Städte, ohne allerdings je auf den Gedanken zu kommen, daß sie Haltestellen oder Stränden entliehen sein könnten.

Bis spät in die Nacht saßen von Schlaflosigkeit geplagte Greise im Finstern auf den Holzbänken. Wenn ich spazierenging, hörte ich sie flüstern und gelegentlich trocken husten, oder das Klopfen von Gehstöcken entfernte sich in Richtung Schwedisches Haus, wo die Ältesten und Berühmtesten von uns untergebracht waren.

Während ich ohne besonderes Ziel umherstreifte, beschäftigte mich ein interessantes Faktum: Fast alle der berühmten Schriftsteller, die hier Erholung suchten, hatten sich gegenseitig Werke zugeeignet. Auch manchen der Kinder, die tagsüber lautstark im Park und am Strand herumtollten, waren von Elternteilen Gedichte oder ganze Erzählungen gewidmet worden, und man merkte sofort, welche der Sprößlinge davon wußten und welche nicht. Außerdem tippelten, wie ich wußte, einige der Damen in nunmehr gebrechlichem Alter, di