: Franz Werfel
: Die Geschwister von Neapel
: Books on Demand
: 9783842342330
: 1
: CHF 0.90
:
: Erzählende Literatur
: German
: 454
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Franz Werfel (10.9.1890 - 26.8.1945) war österreichischer Schriftsteller jüdischer Herkunft. Werfel emigrierte nach dem Anschluss Österreichs in die USA und wurde 1941 amerikanischer Staatsbürger. Werfels Roman"Die Geschwister von Neapel" wurde 1931 veröffentlicht.

Franz Werfel (10.9.1890 - 26.8.1945) war österreichischer Schriftsteller jüdischer Herkunft. Werfel emigrierte nach dem Anschluss Österreichs in die USA und wurde 1941 amerikanischer Staatsbürger.

Domenica Pascarellas Sonntagsgesang


Der Sonntag hat in jeder Stadt seine besondere Art, und nicht nur der Sonntag als solcher, sondern jeder Sonntag des Jahres und der Jahreszeit anders, und nicht nur in jeder Stadt, sondern in jedem Bezirk und Kirchsprengel verschieden. Den Sonntag verstehen am besten die Kinder, die sehr alten Leute und die Armen, die sich ergeben haben. Die Vollgültigen und Tätigen wollen ihm nicht wohl, sie hassen seine Ruhe, sie stören sie inbrünstig, indem sie das Fußball-Stadion stürmen, in dampfenden Kinosälen sich drängen und mit kriegerischen Schwärmen die Ausflugsnatur überziehn. Diesen Massen zum Trotz hat aber der Sonntag dennoch seinen Charakter nicht verloren, der gemischt ist aus Vergnügen und Schwermut, Frieden und Verzweiflung, Herdenwesen und Verlassenheit, Erwartung und Enttäuschung. Noch immer verströmt der Ruhetag Gottes den schaurig holden Opferrauch jahrtausendalter Heiligung und Sabbat-Innerlichkeit, mögen auch Hupen und Lautsprecher seine Stille immer gehässiger zerreißen.

Für die Geschwister Pascarella jedenfalls hatte er von Kind auf die größte Bedeutung. Diese Sechs, drei Brüder, drei Schwestern, besaßen auf der Welt nichts als einander, so wollte es ihre Veranlagung und das Schicksal. Wohl verbrachten sie auch viele Wochenstunden gemeinsam, aber der Sonntag gab ihrer Einigkeit und Liebe eine altgewohnte Weihe. Die kleinen Zwistigkeiten, Bevormundungen, Eifersüchteleien, die jede Lebensnähe mit sich bringt, schwanden hin, und in der Harmonie schwebte nur ein dunkel drohender Ton, das Vorgefühl, es könne so nicht ewig bleiben.

Dabei muss ernsthaft bezweifelt werden, dass es in der großen Stadt Neapel noch sechs andre junge Leute gab, die sich so widerspruchslos, so innig dem Regimente eines Vaters, wie es Don Domenico war, gebeugt hätten. Kinder der üblichen Art wären längst schon in alle Winde auseinander gestoben. Die Geschwister Pascarella jedoch warteten mit der eigentümlichen Erregung, die sie schon seit vielen hundert Sonntagen kannten, auf die Heimkunft des Vaters. Dies nämlich war einer der Bräuche, aus einem unerschöpflichen Haus-Gesetz erfließend, dass Don Domenico um fünf Uhr heimkehrte, um den Rest des Sonntags unter den Kindern in seinem Palazzo zu verbringen.

Domenico Pascarella allein nannte das Haus »Palazzo«, und mit diesem Worte steigt die erste stolze Unstimmigkeit auf, die zwischen der Wirklichkeit und der Vorstellungswelt dieses außerordentlichen Mannes klaffte. Der Palazzo war kein Palast, sondern ein dreistöckiges Miethaus in der Via Concordia, einer der zahllosen Gassen des bergauf strebenden Stadtteils, der vom Corso Vittorio Emanuele umgürtet und vom Castel Sant' Elmo gekrönt wird. Eine ganz gewöhnliche moderne Straße, ohne Aussicht, ohne Schönheit; das Haus, nicht alt, nicht neu, stammte etwa aus den neunziger Jahren. Man hätte