1. KAPITEL
Alessandro verschwendete kaum einen Blick an das Werbematerial, das er in den Papierkorb warf. Seine neueste Assistentin hatte noch immer nicht begriffen, was genau ihm vorgelegt werden sollte und wofür erkeine Zeit hatte.
Die Textilmanufaktur seiner Unternehmensgruppe belegte einen großen Stand auf der nächsten Handelsmesse, aber darum konnte sich einer seiner Manager kümmern. Es brauchte wohl kaum den Geschäftsführer, um …
Oddio mio!
Das Konterfei einer lächelnden jungen Frau erregte plötzlich doch seine Aufmerksamkeit. Ein kleines Muttermal, dunkel wie ein Schönheitsfleck, lenkte den Blick auf einen weichen, einladenden Mund, dessen Lippen jeder Mann spontan anziehend finden musste.
Das Blut strömte schneller durch Alessandros Adern. Dieses Lächeln, diese Lippen. Es war nicht nur sexuelles Interesse, das seinen Puls in die Höhe trieb, sondern eine Beinahe-Erinnerung, die sich in seinem Unterbewusstsein regte. Und ein süßer Geschmack nach Sommerkirschen, vollmundig und absolut süchtig machend.
Ihm wurde heiß, trotz der sorgfältig eingestellten Klimaanlage in seinem geräumigen Büro. Die Spur einer Emotion hielt den Atem fest in seiner Lunge verschlossen. Mühsam zwang Alessandro sich, dieses Gefühl einfach kommen und wieder gehen zu lassen und es nicht hartnäckig zu analysieren.
Ganz sachte wurde der dichte Schleier, der über diesen fehlenden Monaten von vor zwei Jahren lag, gelüftet. Er teilte sich, erlaubte einen verschwommenen Blick, ein diffuses Gefühl, und fiel wieder zusammen.
Frustriert ballte Alessandro seine Hände zu Fäusten und stützte sich mit den Fingerknöcheln an seinem schweren Glastisch ab. Er spürte keinen Schmerz, nur diese ärgerliche, vertraute Leere in seinem Verstand.
Ausschließlich vor sich selbst gestand er sich seine Hilflosigkeit und Verletzbarkeit ein. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass man ihm versichert hatte, in jenen verlorenen Monaten hätten sich keine außergewöhnlichen Vorkommnisse ereignet. Andere Menschen erinnerten sich an diese Zeit: was sie getan oder gesagt hatten. Nur ihm, Alessandro Mattani, fiel nicht das Geringste mehr ein.
Mit bebendem Atem nahm er die Broschüre genauer in Augenschein. Es war die Werbeanzeige eines Luxushotels in Melbourne. Alessandro wartete ab, doch es wollte sich keine weitere Erkenntnis einstellen. Er war nie in dieser Stadt gewesen.
Jedenfalls nicht, dass er wüsste.
Widerwillen stieg in ihm auf, aber eine emotionale Reaktion würde ihm in diesem Moment nicht weiterhelfen. Auch wenn ihn das Gefühl, etwas Wesentliches versäumt zu haben, manchmal in den Wahnsinn zu treiben drohte.
Wieder betrachtete er den Flyer. Eine Frau, die Empfangsdame des Hotels, begrüßte strahlend ein gut aussehendes Paar, das zum Einchecken an die Rezeption kam. Die Umgebung wirkte opulent bis ins Detail, aber dem schenkte Alessandro keinerlei Aufmerksamkeit. Schließlich war er buchstäblich im Luxus aufgewachsen. Doch die abgebildete Frau … sie erregte definitiv sein Interesse.
Je länger er sie betrachtete, desto stärker bildete sich in seinem Verstand eine diffuse Vorahnung heraus. Sein Blut floss schneller durch die Adern, und die Haut an seinem Nacken kribbelte. Das Gesicht kam ihm unheimlich bekannt vor.
Hatte sie ihn jemals auf diese Weise angelächelt?
Seine Ahnung wurde noch etwas klarer, während er die Gesichtszüge der Fremden musterte. Die dunklen Haare waren zu einem Zopf gebunden und betonten so ein hübsches, aber nicht gerade auffälliges Gesicht. Stupsnase, großzügiger, sinnlicher Mund und, für eine Brünette, überraschend helle Augen.
Sie war nicht übermäßig atemberaubend oder gar exotisch genug, als dass man sich überrascht nach ihr umdrehen würde. Und dennoch hatte sie etwas – das gewisse Etwas! Ein Charisma, das der Fotograf erkannt und für sein Bild geschickt eingefangen hatte.
Mit dem Zeigefinger fuhr er die Linie ihres Kinns entlang, dann über ihre Wange, und schließlich ließ er die Spitze seines Fingers auf ihren vollen Lippen ruhen. Da war es wieder. Ein ungutes Gefühl, das an der nicht vorhandenen Erinnerung zerren wollte. Die Erkenntnis, dass es sich hier gar nicht um eine Fremde handelte.
Alessandros Muskeln spannten sich an, als ihn plötzlich verschiedene Empfindungen überfielen. Die weiche Berührung ihrer Lippen auf seinem Mund. Und der Geschmack nach vollreifen Kirschen – ein unwiderstehlicher Genuss! Wie von einem Phantom spürte Alessandro den Druck unsichtbarer Finger auf seiner Haut, und er hörte im Geiste das unterdrückte Seufzen einer weiblichen Stimme. Pure Ekstase.
Seine Brust hob und senkte sich schwer, während er gegen seine Erregung ankämpfte. Das war doch wohl nicht möglich! Dennoch konfrontierte sein Instinkt ihn mit einer Wahrheit, die sich nicht ignorieren ließ.
Er kannte diese Frau. Er war ihr begegnet, hatte sie in seinen Armen gehalten – und hatte sie geliebt.
Ein besitzergreifendes Gefühl meldete sich in einer entlegenen Ecke seines Verstandes. Stumm und gedankenverloren betrachtete Alessandro diese Frau vom anderen Ende der Erde. Wenn er nicht in Melbourne gewesen war, hatte sie dann vielleicht ihrerseits eine Reise in die Lombardei