Tag 1 – Donnerstag, der 8. September
A Million and one Reasons*
*Lena Meyer-Landrut,Good News, 2011
Im Vorraum saß eine teuer ausstaffierte Schönheit auf der abgeschabten Holzbank. Sie hielt den Rücken sehr gerade, so als wolle sie dem ehrwürdigen Möbel keine Intimität mit ihrem Körper gestatten.
»Lass die nicht wieder so lang warten«, riet Felix Wernreuther. »Die kennt den Wirtschaftsreferenten.«
Kastner hob nur kurz den Blick von der Tastatur. Der Bericht über die blutige Schlägerei vor dem ClubPlanet im Stadtteil Klingenhof beanspruchte seine ganze Konzentration. Zweifingersystem.Ich bin Kriminalkommissar, keine Sekretärin, war seine stereotype Antwort, wenn der Chef ihm beim jährlichen Mitarbeitergespräch eine Schulung ans Herz legte. Der war inzwischen von dieser Antwort leidlich angepisst, aber Kastner konnte stur sein, wenn er wollte.
Die Frau interpretierte Kastners Blick als Aufforderung; ihre hochhackigen Schuhe klackerten energisch über die gesprungenen Bodenfliesen.
»Herr Kästner? Man hat mir gesagt, ich solle mich bei weiteren Fragen an Sie als den zuständigen Ermittler wenden …«
»Kastner«, sagte er. »Wenn Sie bitte noch kurz warten würden? Ich habe gleich Zeit für Sie.«
Die Frau hob die gezupften Augenbrauen, als hätte er sie gebeten, auf einem Bein zu stehen. »Das ist ja wohl Behördenschikane«, stellte sie fest. »Meine Zeit ist kostbar. Es geht um einhundertsiebzehn Arbeitsplätze.«
Kastner nickte resigniert. Er war schwierige Klientel gewohnt: Leute, die ihm Schläge androhten, Betrunkene, die auf den Fußboden kotzten; und er sah jeden Tag mehr Elend, als ihm guttat: Frauen mit Hämatomen im Gesicht, drogensüchtige Kinder, alte Frauen, denen man die letzten Ersparnisse aus dem Marmeladenglas gestohlen hatte. Er war als Ermittler angestellt, aber er hätte genug Arbeit für mehrere Sozialpädagogen, Putzfrauen, Dolmetscher und nicht zuletzt auch eine Sekretärin gehabt. Aber so war das Leben. Richtig auf die Nerven gingen ihm jedoch Leute, die den Wirtschaftsreferenten kannten und damit nicht hinter dem Berg hielten.
»Wir bearbeiten Ihre Vermisstenanzeige mit höchster Priorität, und sobald es etwas Neues über den Verbleib Ihres Mannes gibt, werden wir Sie natürlich sofort benachrichtigen, Frau … äh, Wollreis«, sagte er. Der Name der Wohnbaufirma Wollreis AG war in Nürnberg stadtbekannt, aber er wollte keine übertriebene Demut zeigen.
Beate Wollreis kniff die Augen zusammen und beugte sich über den Tresen. Eine lange Perlenkette löste sich von ihrem verschwitzten Dekolleté und pendelte sacht vor Kastners Augen hin und her. »Höchste Priorität!«, sagte sie verächtlich. »Ist das Ihr Verständnis von Humor? Sie schieben hier Aktenstapel hin und her, während ich jeden Tag um meine Existenz kämpfe!«
Kastners Mitleid hielt sich in Grenzen. Wollreis hatte über Jahrzehnte im wahrs