1. KAPITEL
Es ist längst dunkel, wenn ich im Dorf ankomme, und das ist meine eigene Schuld, dachte Harriet und verzog das Gesicht.
Sie war später aus London weggefahren, als sie vorgehabt hatte. Und dann hatte sie am Nachmittag auch noch in einer Autobahnraststätte einen Tee getrunken. Jetzt brach die Dämmerung herein, und sie brauchte mindestens noch eine halbe Stunde, bis sie das Dorf und ihr neues Zuhause erreicht hatte.
„Du bist verrückt!“, hatte Harriets Schwester Louise ausgerufen, als sie ihr erzählt hatte, dass sie umziehen würde. „Willst du wirklich aus London wegziehen und in einem abgelegenen Dorf nahe der schottischen Grenze leben?“, hatte Louise gefragt. Harriet hatte deutlich gespürt, wie entsetzt ihre Schwester gewesen war.
Bei dem Gedanken an ihre Schwester fühlte Harriet sich unbehaglich. Seit dem Tod ihrer Eltern hatte sie sich um Louise, die vier Jahre jünger war, gekümmert. Harriet war damals zweiundzwanzig gewesen und hatte keine Sekunde gezögert, ihre Zukunftspläne aufzugeben und in London eine Stelle anzunehmen. Sie hatte davon geträumt, eine Zeit lang im Ausland als Lehrerin zu arbeiten. Stattdessen versuchte sie, Louise ein Zuhause zu geben.
Es war schwierig, mit Louise zurechtzukommen, sie war sehr rebellisch und eigensinnig. Einige Monate nach dem Tod ihrer Eltern kaufte Harriet von ihrem Erbteil für sich und ihre Schwester in London ein kleines Haus. Louise hingegen verkündete, sie wolle Model werden und ihr Erbe für die Ausbildung verwenden und auch dafür, sich die Welt anzusehen.
Louise war eine schöne junge Frau. Dennoch war Harriet überzeugt, ihre Schwester wolle nur Model werden, weil sie das vermeintlich glamouröse Leben reizte. Sie glaubte nicht, dass Louise genug Zielstrebigkeit und Charakterstärke besaß, um den Konkurrenzkampf auszuhalten und sich durchzusetzen. Deshalb redete sie ihr ins Gewissen und bemühte sich, sie umzustimmen.
Aber Louise wollte nicht auf sie hören. Sie wurde zornig, packte ihre Sachen und verschwand. Trotz intensiver Suche blieb sie sechs Monate unauffindbar. Harriet war sehr beunruhigt und hatte Schuldgefühle, weil sie ihrer Meinung nach versagt hatte.
Dann fing sie an, ihr Leben neu zu ordnen, und kam etwas zur Ruhe. Sie fand sich an der großen Gesamtschule, an der sie Englisch unterrichtete, immer besser zurecht und freundete sich mit Paul Thorby, einem Kollegen, an. Plötzlich tauchte Louise völlig überraschend und wie selbstverständlich wieder auf. Sie erklärte, sie habe in Italien gelebt und dort als Model gearbeitet.
Es tat ihr offenbar nicht leid, dass Harriet ihretwegen sechs Monate lang in Angst und Unruhe gelebt hatte. Sie redete nur über sich selbst und ihre Pläne. Und Harriet war so erleichtert über ihre Rückkehr, dass sie ihr keine Vorwürfe machte.
Sie würde einen reichen Italiener heiraten, den sie in Turin kennengelernt hätte, erzählte Louise. Gedankenlos und leichtfertig fügte sie hinzu, sie sei nur nach London gekommen, um ihr Brautkleid zu kaufen.
Als Harriet erfuhr, dass ihre Schwester Guido, wie der junge Mann hieß, erst sechs Wochen kannte, bat sie sie, mit der Hochzeit noch etwas zu warten. Natürlich wusste Louise alles besser und schlug Harriets Warnungen in den Wind.
Vier Wochen später heirateten Louise und Guido in Turin. Harriet gefiel ihr Schwager. Sie bezweifelte jedoch, dass Louise es schaffte, sich an das neue Leben in Guidos großer Familie zu gewöhnen.
Paul Thorby erinnerte Harriet daran, dass ihre Schwester erwachsen sei und gut auf sich selbst aufpassen könne. Er war ein netter Mensch, aber ungemein pedantisch. Er wurde leicht ungeduldig, wenn man ihm nicht genug Aufmerksamkeit schenkte. Geschwister hatte er keine, und als er Harriet mit nach Hause nahm, um sie seiner Mutter vorzustellen, wurde sie mutlos. Ihr war sogleich klar gewesen, dass sie mit Sarah Thorby nicht zurechtkommen würde.
Mit ihren vierundzwanzig Jahren war Harriet damals etwas unzufrieden mit ihrem Leben gewesen. Was war aus ihren Träumen geworden, durch die Welt zu reisen, ehe sie sesshaft wurde und sich um ihre Karriere kümmerte?
Nachdem Louise geheiratet hatte, gab es keinen Grund mehr, weshalb sie sich ihre Träume nicht endlich erfüllen sollte. Harriet brauchte auf niemanden mehr Rücksicht zu nehmen und nahm sich vor, am Ende des Schuljahrs über ihre Zukunft nachzudenken.
Sechs Monate hatte sie gebraucht, bis sie sich dazu durchgerungen hatte, sich von Paul zu trennen. Sie beschloss, ihm klarzumachen, dass sie sich noch nicht binden wollte und gern noch andere Länder kennenlernen würde. Doch plötzlich kam Louise nach Hause zurück. Die Ehe war gescheitert, und sie wollte sich von Guido scheiden lassen.
Harriet war bestürzt und versuchte, ihre Schwester zu überreden, zu ihrem Mann zurückzukehren. Aber Louise blieb hart und reichte die Scheidung ein. Und wie selbstverständlich zog sie wieder bei Harriet ein. Als Guido hinter Louise herkam und mit ihr sprechen wollte, schloss sie sich im Schlafzimmer ein und weigerte sich, ihn zu sehen. Sie überließ es Harriet, sich mit ihm auseinanderzusetzen.
Er beschwerte sich sehr über seine Frau. Daraus schloss Harriet, dass er Louise nicht mehr liebte und die Ehe wirklich gescheitert war. Guido kehrte schließlich nach Turin zurück.
Paul mochte Louise nicht und erwartete von Harriet, dass sie ihre Schwester aufforderte, sich eine andere Unterkunft zu suchen. Aber dazu war Harriet viel zu gutmütig. Außerde