Auf den Spuren der Ritchie Boys
Ein kalter, windiger Tag im Oktober 2003: Am Airport von Baltimore warte ich auf Guy Stern, Distinguished Professor for German Literature an der Wayne State University in Detroit – ein Ritchie Boy. Zusammen mit seinem Freund Fred Howard, der von New York aus mit dem Zug nach Baltimore unterwegs ist, wollen wir nach Camp Ritchie in den Blue Ridge Mountains fahren. Die beiden waren von 1944 an als amerikanische Soldaten Partner in einem Team, das deutsche Kriegsgefangene verhörte.
Der Besuch in Camp Ritchie ist der Höhepunkt der Dreharbeiten zu meinem Film »Die Ritchie Boys«. Er soll die Geschichte jener jungen Männer erzählen, die als deutsche Emigranten in diesem Lager vom Geheimdienst der amerikanischen Armee in Propaganda und psychologischer Kriegsführung ausgebildet und danach an die Front in Europa geschickt wurden.
Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges sind fast sechzig Jahre vergangen, und so ziemlich jeder Aspekt der Jahre zwischen 1939 und 1945 scheint erforscht und ausgeleuchtet. Aber rätselhafterweise blieb Camp Ritchie auf der Landkarte des Zweiten Weltkrieges ein blinder Fleck. Dabei war das Camp in den Bergen von Maryland während der Kriegsjahre ein höchst ungewöhnlicher Ort.
Einer der Ritchie Boys, der Regisseur Hanus Burger, beschreibt Camp Ritchie in seiner Autobiographie »Der Frühling war es wert« als eine »der seltsamsten, unwahr-scheinlichsten und denkwürdigsten Schöpfungen dieses verflossenen Weltkrieges«. Er wagt sogar den kühnen Vergleich mit dem Manhattan-Projekt, dessen Zweck die Entwicklung der Atombombe war, und schreibt: In Ritchie wurde »eine Menge blitzgescheiter und manchmal auch blitztörichter Köpfe zusammengetrommelt. Das Endziel: Die Erforschung der psychischen Widerstandskraft des Gegners und ihre Lähmung.«
Klaus Mann, der Sohn des Literatur-Nobelpreisträgers, war einer der ersten deutschen Exilanten in Ritchie. Er ist nicht nur überrascht von der idyllischen Lage des Camps in den Blue Ridge Mountains, das ihn eher an ein Sanatorium erinnert als an ein Ausbildungslager, auch von der hervorragenden Küche schwärmt er. In einem Brief an seine Mutter vergleicht er die Atmosphäre in Ritchie mit den Kaffeehäusern in Wien, Prag oder Berlin, denn lauter alte Bekannte trifft er dort. Viele von ihnen sind erst seit kurzem in den USA, und Englisch sprechen die meisten nur mit hartem deutschem Akzent.
Es ist eine Elite des Exils, die im Laufe des Jahres 1943 von den auf Fremdsprachenkenntnisse programmierten Lochkartenmaschinen des Pentagons aussortiert und zur Ausbildung nach Camp Ritchie geschickt werden: neben Klaus Mann und Hanus Burger zum Beispiel auch die Autoren Hans Habe und Stefan Heym. Heym wird viele Jahre später als Alterspräsident und Abgeordneter der PDS den ersten gesamtdeutschen Bundestag nach der Wiedervereinigung eröffnen.
In der Mehrzahl sind die jungen Männer in Ritchie Intellektuelle, Künstler, Studenten. Es gibt natürlich auch richtige Amerikaner in Ritchie, aber die meisten der jungen Soldaten stammen aus Europa. U