Eine Frau erinnert sich immer an die erste Leiche, die sie rasiert hat. Es ist das einzige Ereignis in ihrem Leben, bei dem ihr mulmiger wird als beim ersten Kuss oder beim Verlust ihrer Jungfräulichkeit. Nie bewegt sich der Uhrzeiger langsamer, als wenn man mit einem pinkfarbenen Einwegrasierer in der Hand vor der Leiche eines älteren Mannes steht.
Im grellen Schein des Neonlichts blickte ich geschlagene zehn Minuten auf den armen reglosen Byron, so kam es mir wenigstens vor. So hieß er, jedenfalls stand dieser Name auf dem Zettel an seinem großen Zeh. Ich war mir nicht sicher, ob Byron noch als Subjekt (als Person) durchging oder bereits als Objekt (Leiche) galt, aber wenn ich schon eine derart intime Handlung an jemandem vornahm, wollte ich doch wenigstens seinen Namen wissen.
Byron war ein Mann um die siebzig mit einer weißen Haarmähne und dichten weißen Bartstoppeln. Abgesehen von dem Laken, mit dem ich seine untere Körperhälfte abgedeckt hatte, war er nackt. Was ich da eigentlich verhüllen wollte, wusste ich nicht so recht. Offenbar ein Anfall postmortaler Schicklichkeit.
Seine Augen, die in den Abgrund über ihm starrten, waren leer wie geplatzte Luftballons. Sind die Augen eines Liebenden ein kristallklarer Bergsee, erinnerten die von Byron an einen trüben Tümpel. Sein Mund war in einem stummen Schrei erstarrt.
«Ähm, he, äh, Mike?», rief ich meinem neuen Chef aus dem Präparationsraum zu. «Soll ich das mit Rasiercreme machen, oder …»
Mike kam herein, nahm eine Dose Rasierschaum von einem Metallschränkchen und wies mich darauf hin, ein Adlerauge auf die Falten zu haben. «Wenn du ihm ins Gesicht schneidest, haben wir ein Problem. Also sei vorsichtig, okay?»
Klar, vorsichtig. So vorsichtig wie all die anderen Male, wenn ich «jemanden rasiert» hatte. Also nie.
Ich zog die Gummihandschuhe an und fuhr mit dem Daumen über Byrons kalte, steife Wangen, die Bartstoppeln, die ihm in den letzten Tagen gesprossen waren. Ich fühlte mich meiner Aufgabe auch nicht ansatzweise gewachsen. Tatsächlich hatte ich stets geglaubt, Bestatter seien Profis durch und durch, perfekt ausgebildete Experten, die sich unserer Verstorbenen annehmen, damit wir es nicht selbst tun m