1. KAPITEL
„Ist hier jemand?“ Die barsche Stimme des Mannes hallte durch den dunklen Flur.
Lilley Smith schlug eine Hand vor den Mund, um ihr Schluchzen zu ersticken, und zog sich tiefer in den Schatten zurück. Es war Samstagabend, und sie hatte geglaubt, abgesehen von den Wachmännern im Foyer, ganz allein in dem zwanzigstöckigen Hochhaus zu sein. Bis vor fünf Sekunden, als sie das Geräusch des ankommenden Fahrstuhls gehört hatte. Mit ihrem Aktenwagen im Schlepptau war sie in das nächste Büro geflüchtet.
Leise schloss Lilley mit dem Fuß die Tür und wischte über ihre tränennassen Augen. Sie versuchte, lautlos zu atmen. Wann verschwand der Mann endlich wieder, damit sie in Ruhe weinen konnte?
Ihr Tag war so entsetzlich gewesen, dass es fast schon wieder komisch war. Nachdem sie am Morgen von einem missglückten ersten Joggingversuch nach Hause gekommen war, hatte sie ihren Freund in flagranti mit ihrer Mitbewohnerin im Bett erwischt. Gleichzeitig war ihr Traum von einem eigenen Geschäft geplatzt. Und als sie schließlich auf der Suche nach Trost zu Hause angerufen hatte, war sie von ihrem Vater enterbt worden. Ein beeindruckender Tag, selbst für ihre Verhältnisse.
Normalerweise hätte Lilley sich geärgert, weil sie schon wieder am Wochenende arbeiten musste. Aber darauf kam es heute auch nicht mehr an. Sie arbeitete jetzt seit zwei Monaten als Archivarin beiCaetani Worldwide, aber sie brauchte immer noch doppelt so lange für die Arbeit wie ihre Kollegin Nadia.
Nadia. Kollegin, Mitbewohnerin und – seit heute Morgen – ehemalige beste Freundin. Lilley schloss die Augen, als sie sich an Nadias entsetzten Gesichtsausdruck erinnerte, mit dem sie aus dem Bett gesprungen war. Sie hatte einen Bademantel übergeworfen, geweint und Lilley um Verzeihung angefleht, während Jeremy gleichzeitig versuchte, Lilley die ganze Schuld an dem Betrug in die Schuhe zu schieben.
Lilley war aus der Wohnung geflohen und hatte den nächsten Bus in die Innenstadt genommen. Sie fühlte sich traurig und verloren und sehnte sich nach Trost. Zum ersten Mal seit drei Jahren hatte sie ihren Vater angerufen, aber auch das war nicht gerade gut ausgegangen.
Zum Glück besaß sie noch ihre Arbeit! Der Job war alles, was ihr geblieben war. Aber wann verschwand der Mann da draußen auf dem Flur endlich wieder?
Auf keinen Fall durfte er – oder irgendjemand – sehen, wie sie sich im Schneckentempo abmühte, die Akten zu sortieren, während die Buchs