2. KAPITEL
Howard spähte über den Rand der Klippe. Selbst im trüben Licht eines wolkenverhangenen Mondes konnte er mit seinem scharfen Blick die zerklüfteten Felsen ausmachen, auf denen man vor all den Jahren Carly gefunden hatte, ihr Körper zerschmettert, ihr langes braunes Haar von Blut verklebt. Seine erste große Liebe, das Mädchen, das er einmal heiraten wollte. Ermordet in der Nacht ihres Abschlussballs.
Sein Blick richtete sich auf die kleine Ansammlung von Lichtern, die die kleine Stadt Port Mishenka an der Ostküste der alaskischen Halbinsel markierte. Zwanzig Jahre waren vergangen, seit er zum letzten Mal hier gewesen war, aber viel hatte sich nicht verändert. Die auffälligsten Lichter gehörten immer noch zum Footballfeld der High School. Dort war er früher einmal ein Held gewesen, aber jetzt würde ihn keiner der Einwohner mehr willkommen heißen. Nicht, solange sie ihn für Carlys Mörder hielten. Ihre Familie behauptete immer noch, er hätte sie zusammen mit ein paar Jungen von den Klippen geworfen.
Es war unmöglich, alle Anschuldigungen von sich zu weisen. Er hatte wirklich drei Jungen von den Klippen geworfen. Werwölfe. Bis vor drei Monaten hatte er sie alle für tot gehalten. Jetzt kannte er die Wahrheit. Der Schlimmste der drei hatte überlebt.
Er konnte es Carlys Familie nicht vorwerfen, dass sie sich gegen ihn gewendet hatten. Ihr Tod hatte ihnen das Herz gebrochen. So war es ihm selbst jahrelang ergangen. Er lebte mit einem gebrochenen Herzen und Schuldgefühlen, weil in den Behauptungen der Familie ein Funken Wahrheit steckte. Ihre Tochter war wegen ihm ums Leben gekommen. Sie war zur unschuldigen Schachfigur in Rhett Bleddyns Racheplänen geworden.
Es hatte ihm wenig Trost gespendet, zu glauben, Rhett umgebracht zu haben. Das Dreckschwein hatte den perfekten Weg gefunden, ihn zu quälen, indem er dafür gesorgt hatte, dass er sich für Carlys Tod verantwortlich fühlte.
Jetzt allerdings war die Wahrheit ans Licht gekommen. Rhett Bleddyn war noch am Leben.
Und das Spiel hatte von Neuem begonnen. Leider hatte Rhett den Heimvorteil. Vor Kurzem zum Rudelführer von ganz Alaska erklärt, hatte er Hunderte von Werwölfen in seinem Team. Howard konnte sich nur an wenige Wer-Bären aus seiner schwindenden Inselgemeinschaft wenden. Was ihm an Unterstützung fehlte, musste er durch überlegenes Timing und Strategie ausgleichen.
Und was Timing anging, wurde es langsam Zeit, dass die zwei Männer, die gerade den Berg hochkletterten, endlich bei ihm ankamen. Der Geruch nach Werwolf stieg zu ihm hinauf, und Howard schloss instinktiv seine Faust um den aus Holz geschnitzten Wanderstock, den er sich von seinem Großvater ausgeliehen hatte. Der Stock war dick genug, um ihn als Waffe zu benutzen, und über einen Meter neunzig lang, sodass er direkt auf Höhe seiner Augen endete.
Er lockerte seinen Griff. Dieser Werwolf war einer der wenigen Lykaner, die er als Freund bezeichnete. Werwölfe gingen immer davon aus, dass sie den empfindlichsten Geruchssinn hatten, aber in diesem Punkt waren die Wer-Bären ihnen voraus. Er konnte Phils Duft aus zwei Meilen Entfernung erkennen. Nicht, dass Phil normalerweise anders riechen würde als andere Werwölfe. Der Einfluss seiner Frau, Vanda, war es, der ihn einzigartig machte. Sie sorgte dafür, dass er irgendein besonderes Shampoo benutzte.
Offensichtlich hatte Phil di