1. KAPITEL
Sie landete mitten in der Nacht mit einem kleinen Privatflugzeug, das sie von ihrem letzten Bargeld gechartert hatte. Ihr Gesicht war halb verborgen unter dem breitrandigen, tief in die Stirn gezogenen Hut, das Haar war straff zurückgebürstet und im Nacken geknotet. Sie trug einen schlichten schwarzen Mantel über der schwarzen Hose, kein Make-up und keinen Schmuck. So kleidete sich eine Frau, die keine Blicke auf sich ziehen wollte. Die sich verstecken musste.
Hätte der Pilot genauer hingesehen, hätte er ihren aschfahlen Teint und ihre zitternden Hände bemerkt, die den Griff der Reisetasche umklammerten. Vielleicht auch ihre funkelnden blauen Augen und das entschlossen vorgereckte Kinn. Doch er beachtete sie kaum, streifte sie nur beim Einsteigen mit einem flüchtigen Blick und verlor sofort das Interesse. Er tat genau das, wofür Chessie ihn fürstlich bezahlt hatte. Nun aber saß sie steif vor Anspannung auf ihrem Sitz und blickte ängstlich durch das kleine Fenster in die Dunkelheit hinaus.
Die Landung auf Sizilien stand kurz bevor, und Chessie hatte ein flaues Gefühl im Magen. Sie schloss die Augen, lehnte den Kopf ans Polster und atmete tief durch. Niemand würde sie aufhalten. Niemand wusste von ihrer Ankunft.
Während der letzten Monate hatte sie gelernt, ständig über die Schulter zu blicken, keinen Namen zu nennen, keine persönlichen Angaben zu machen und nur bar zu bezahlen. Sie hatte zu ihrem eigenen Schutz ein völlig anonymes Leben geführt.
Doch nun kehrte sie nach Sizilien zurück. Was für viele ein Paradies war, war für sie ein Gefängnis. Aber nicht mehr lange, tröstete sie sich. Irgendwann demnächst würde sie tun, was getan werden musste. Zunächst aber wollte sie ihre Mutter besuchen. Das erste Mal nach sechs langen Monaten …
Der Copilot kam nach hinten, um die Landung anzukündigen und ihr mitzuteilen, dass ein Wagen für sie bereitstand. Er sprach Englisch mit starkem italienischen Akzent, und Chessie antwortete in derselben Sprache, obwohl ihr Italienisch perfekt war. Sie fragte sich, wie er reagiert hätte, wenn er gewusst hätte, wer sie war. Doch das konnte niemand ahnen. Nichts in ihren Papieren verriet ihre wahre Identität.
„Va bene.“ Der Copilot nickte ihr zu. „Gute Reise.“
Gute Reise? Chessies Mund wurde trocken vor Angst, als die kleine Privatmaschine auf dem Rollfeld aufsetzte. Sie schnallte sich ab, griff nach ihrer Tasche und lief zögernd zum Ausgang. Es wird schon gut gehen, sagte sie sich, während sie die Treppe hinabstieg, eingehüllt in die warme, duftende Nachtluft Siziliens. Ihr Vater war tot, das Begräbnis vorüber. Niemand rechnete mit ihrer Heimkehr. Sie würde nur kurz ihre Mutter besuchen und sofort wieder abreisen.
Danach würde sie ihr Leben in Ordnung bringen. Nicht mehr weglaufen, sich nicht mehr verstecken. Das vergangene halbe Jahr hatte gezeigt, wozu sie fähig war.
Wie Suchscheinwerfer glitten die Lichter des herannahenden Wagens über das Rollfeld. Chessie bemühte sich, ihren rasenden Puls unter Kontrolle zu halten, als die Limousine neben ihr hielt. Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, glitt sie blitzschnell auf die Rückbank. Erst als die Wagentür zufiel, merkte sie, dass dort jemand saß.
Oh nein! Starr vor Schreck, wagte sie nicht, ihn anzusehen. Sie wusste, wer er war, konnte seine Nähe förmlich spüren. Rocco Castellani. Milliardär und ein ausgemachter Schuft. Ihr Ehemann.
Mühsam beherrscht beobachtete Rocco, wie Chessie vergeblich die verriegelte Tür zu öffnen versuchte. Unter der breiten Hutkrempe sah er die Panik in ihren Augen. Ich habe sie unterschätzt, dachte er ärgerlich, aber auch leicht amüsiert. Von allen Frauen, die er kannte, war Francesca die einzige, die ihn je überrascht hatte.
„Buonasera, tesoro. Willkommen zu Hause.“ Er wechselte ins Englische, denn das war die Sprache, in der sie sich normalerweise unterhielten. Interessiert musterte er ihr blasses Gesicht. Offenbar hatte sie nicht erwartet, ihn hier anzutreffen. Wie konnte sie nur so naiv sein?
Er wartete auf eine Äußerung von ihr, doch sie saß völlig verkrampft neben ihm, sagte kein Wort und klammerte sich verzweifelt an die Kante ihres Sitzes. Mit jedem anderen hätte er Mitleid gehabt, nicht aber mit seiner Frau. Nach allem, was sie getan hatte, konnte sie froh sein, überhaupt in seinem Wagen si