1. KAPITEL
Kurz vor der Landung auf dem Norfolk International Airport nahm Lancelot Beckett einige Unterlagen aus seinem Aktenkoffer und warf einen flüchtigen Blick auf den Stammbaum. Anfangs hatten sie nur einen Namen gehabt und vage Angaben über Geburtsdatum und Geburtsort.
„Was zum Teufel weiß ich schon davon, wie man die Nachkommen eines Cowboys aus Oklahoma aufspürt, der vor etwa hundertfünfzig Jahren geboren wurde?“, hatte Beckett abgewehrt, als er das letzte Mal seinen Cousin Carson, der in einem Außenbezirk von Charleston wohnte, besucht hatte. „Wenn es darum geht, Piraten aufzuspüren, dann bin ich dein Mann, aber Cowboys? Komm schon, Carson, das ist nichts für mich.“
„He, wenn du es nicht schaffst, übernehme ich das Ganze, sobald ich dieses Ding hier los bin.“ Carson, ein Kriminalbeamter, war durch einen Glasfiberverband momentan ziemlich bewegungsunfähig. Das sprichwörtliche Glück der Becketts hatte ihn vor etwa zwei Monaten im Stich gelassen. „Wie es aussieht, kannst du die Sache auf der Rückreise erledigen. Es ist also nicht so, dass du extra einen Riesenumweg machen müsstest.“
„Weißt du eigentlich, wo ich gerade war, als Mom mich alarmierte? In Dublin, ob du es glaubst oder nicht“, hatte Beckett erklärt. Sie hießen beide Beckett, aber mit elf hatte Lancelot sich gegen seinen Rufnamen entschieden. Seitdem wurde er bei seinem Nachnamen gerufen. „Ich musste einige Termine in London absagen, ganz zu schweigen von einer privaten Verabredung. Zudem werde ich in nächster Zeit gar nicht nach Hause fahren.“
Wozu auch? Sein Zuhause war nichts weiter als ein Büro mit zwei Räumen und einer kleinen Wohnung eine Etage höher in Wilmington, Delaware. Das war gut genug als Postadresse und um für ein paar Tage die Beine hochzulegen, wenn er sich wieder einmal in den Staaten aufhielt.
Wie sich herausstellte, lag der Ort, an dem sich die Frau aus der Familie der Chandlers vermutlich versteckte, etwa auf halbem Weg zwischen Wilmington und seinem Elternhaus in Charleston.
Verstecken war wohl der falsche Ausdruck. Die Frau war nach dorthin verzogen. Was auch immer ihre Gründe für ihren Umzug von Texas nach North Carolina waren, es war unglaublich schwierig gewesen, ihr auf die Spur zu kommen. Nur mit Hilfe von Carsons Polizeicomputern, einigen inoffiziellen Quellen und einem professionellen Ahnenforscher hatten sie es geschafft.
Und doch war sie letzten Endes durch einen puren Zufall aufgespürt worden, weil jemand in der Nähe der Ortschaft Bertha, North Carolina, ein Hinweisschild mit der Aufschrift „Grants Obst und Gemüse – Eiswasser gratis“ entdeckt hatte. Der Verkaufsstand lag auf einer Halbinsel zwischen dem North River und dem Currituck Sound, und es gab nicht mal einen Straßennamen, nur ein Hinweisschild am Highway.
Beckett versuchte, seine Ungeduld zu zügeln. Er war es gewohnt, auf Reisen zu sein, während sich sein Geschäftspartner ums Büro kümmerte. Aber bei diesem speziellen Job ging es um eine Familienangelegenheit, die nicht delegiert werden konnte.
Er hatte zwei Stunden eingeplant, um nach seiner Ankunft am Flughafen das Haus der Unbekannten zu finden, und eine weitere halbe Stunde, um die Dinge zu regeln. Danach würde er nach Charleston zurückkehren und PawPaw sagen, dass die Sache erledigt war. Alle Schulden, die seine Familie bei Eliza Chandler Edwards hatte, die direkt vom alten Elias Matthew Chandler aus Crow Fly abstammte, das damals zu Oklahoma gehörte, waren endlich beglichen.
Der Ahnenforscher hatte in Rekordzeit hervorragende Arbeit geleistet. Probleme hatte er nur an der Stelle bekommen, als Miss Chandler einen gewissen James G. Edwards geheiratet hatte, geboren am 1. Juli 1962, gestorben am 7. September 2001. Durch Polizeirecherchen – insbesondere des Dezernats für Wirtschaftskriminalität – war herausgekommen, dass Mr und Mrs Edwards vor einigen Jahren in einen hochkarätigen Anlagebetrug verwickelt gewesen waren. Edwards hatte die Sache buchstäblich umgebracht, denn er wurde beim Joggen von einem seiner Opfer angeschossen, aber ehe er starb, hatte er seine Frau von jeder Beteiligung freigesprochen. Sie hatte nie direkt mit seinen illegalen Machenschaften zu tun gehabt. Danach war sie nur noch so lange in Dallas geblieben, bis sie ihren Besitz veräußert hatte, und war dann von der Bildfläche verschwunden.
Beckett wusste nicht, ob sie mitschuldig war oder tatsächlich unschuldig. Es war ihm eigentlich auch egal. Er wollte PawPaw einen Gefallen tun, nicht ihr.
Dass er das konnte, war letzten Endes dem glücklichen Zufall zu verdanken, dass ein Reporter mit einem exzellenten Gedächtnis Urlaub in North Carolina auf der Inselgruppe Outer Banks gemacht und auf seiner Heimfahrt Richtung Süden an einem bestimmten Verkaufsstand gehalten hatte.
Er hatte Carson von Nags Head aus angerufen. „Hallo, mein Lieber, haben Sie vor ein paar Wochen nicht Nachforschungen nach einer gewissen Mrs Edwards angestellt? Die Frau, die in diesen Riesenbetrug in Texas verwickelt war, wo so viele Senioren ausgenommen wurden?“
Und so hatten sie Mrs Chandler Edwards gefunden. Sie hatte sich mitten in der Einöde mit einem Mann namens Frederick Grant verkrochen, einem Großonkel mütterlicherseits. Wenn es diesen zufälligen Durchbruc