EINS
Als Judit Kalman in Venedig ankam, überraschte sie außergewöhnliches Wetter. Es regnete, und das mitten im Juli. Der Zug fuhr auf den Damm auf und sie konnte sehen, wie Wolken verschiedener Dunkelheitsstufen auf das entfärbte, von nervösen Winden aufgerührte Meer ihre Schatten warfen.
Sie hatte den Zug genommen, der zu Mittag ankam, und daher mit Sonnenhöchststand, einem entblößten, der weißen Dürre hingegebenen Firmament und stechender Hitze gerechnet. Nun war es zwar heiß, aber auf jene schwüle, tropische Art, die einen die Gerüchte glauben ließ, irgendwo im Po-Delta würden Flamingos leben. Eine Möwe, die neben dem Zug herflog, wurde von nassen Windböen durch die Luftschichten gedrückt. Es sah aus, als würde sie – schief und zerzaust – als Teil eines Mobiles an einem Faden hängen.
Judit stellte sich darauf ein, im Bahnhofsgebäude abzuwarten, ihre hellgrüne Lederhandtasche vertrug keinen Regen, die Bluse aus weißer Knitterseide höchstwahrscheinlich auch nicht. Schwarz vor Nässe saßen die vertrauten Holzpfähle in der Lagune. Jeweils drei aneinandergelehnt, von zwei Eisenbändern zusammengehalten, von denen orangefarbene Rostschlieren herabrannen. Normalerweise konnte man an der Wasserlinie sehen, wie das Salz-Luft-Gemisch die Pfähle biberartig abgenagt hatte und leuchtend grüner Tang nach oben kroch, aber jetzt lag alles verschwommen und silbrig im Dunst.
Wie man überhaupt im Juli nach Venedig fahren kann, ist mir unbegreiflich, und wenn ich einmal das Sagen haben werde, wird das auch nicht mehr vorkommen.
Als Judit aus dem Bahnhofsgebäude trat, war der Spuk vorbei. Letzte Wolken wurden weiß und korallenförmig, bevor sie davonliefen. Die Sonne begann Stufen und Vorplatz bereits aufzutrocknen. Die Kirche San Simeon Piccolo an der gegenüberliegenden Seite des Canal Grande war eingerüstet, was Judit den ersten Anblick verdarb. Die weißen Stufen, die weißen Säulen, das dreieckige Fries, darauf freute man sich, wenn man aus dem Bahnhofsgebäude trat und den ersten Blick in das Innere der Stadt warf, deren Schale man eben mit dem Zug durchbohrt hatte.
Vor dem Actv-Häuschen am Canal stand eine Touristenschlange, die schnell länger wurde. Judit beeilte sich, ihren Koffer die Stufen hinunterzuziehen und sich anzuschließen. Vor jedem Verkauf einer Vaporettofahrkarte führte die Actv-Bedienstete ausführlich Rücksprache mit einer Kollegin, die hinter ihr stand. Offenbar fand hier eine Einschulung statt. Mitten in der Hochsaison, zur heißesten Tageszeit, ausgerechnet am Bahnhof. Die ersten, die zu schimpfen begannen, waren die Italiener, die in der Schlange standen. Die Ausländer waren noch gewillt, die Wartezeit landesüblicher Gelassenheit zuzuschreiben und sich die Urlaubsstimmung nicht verderben zu lassen. Judit dagegen war zu gar nichts gewillt. Jeden Moment würde sie aus der Reihe treten und ein Wassertaxi nehmen. In die Ruhe eines leeren Bootes entkommen, in die Kühle, die von seinen blankgefirnissten Holzverkleidungen ausging. Aus dem offenen Dachfenster schauen, die Ellbogen auf dem Dach aufgestützt. Das Gesicht in den Fahrtwind halten, die Komplimente des Fahrers aufschnappen, wenn er sich lächelnd umwandte.
Die vom Regen blankgewaschene Sonne brannte, Engländer, Franzosen, Holländer, Deutsche wollten eine Vaporettofahrkarte kaufen, und natürlich ließ sich kein venezianisches Management davon abhalten, in dieser Situation in aller Ruhe eine Einschulung vorzunehmen.