EINS
So fühlte es sich also an. Der Himmel hing nicht nur voller Geigen, er war auch blauer, der Schnee weisser, die Sonne schien heller, die ganze Welt gehörte mir. Und da war diese Leichtigkeit, die ich seit einem Jahr nicht mehr gespürt hatte.
Ich schraubte die Musik auf. «Prologue-Birth» aus Epica von Audiomachine. Etwas zwischen klassisch und Filmmusik. Ein Feuerwerk. Inspiration für diesen Tag, den ich zu meinem schönsten machen wollte.
Ich fuhr auf der Autobahn. Links und rechts zog eine tote Landschaft vorbei. Baumskelette, braungraue Wiesen, stellenweise erstarrter Reif. Januar war’s und die Zeit wie angehalten. Die längste Nacht vorbei, doch die Tage ruhten noch im Winterschlaf. Ich mochte diese Tage, an denen man kein schlechtes Gewissen haben musste, später aufzustehen und die frische Luft bloss durch die Fensterritze einzuatmen.
Vor mir tauchten Bremslichter auf, zwei Warnblinker. Einen Kilometer vor der Ausfahrt Landquart stand ich im Stau. Doppelspurig und kein Ende in Sicht.
Vermaledeiter Mist!
Um zwei wollte ich in Davos sein.
Mam hatte mir wider Erwarten ihren Fiat Punto geliehen, der eine bessere Falle in einem Museum gemacht hätte. Ich war mit hundertzwanzig Stundenkilometern über die Autobahn gerast. Mehr war nicht aus dem Wagen zu holen. Geduldig fuhr ich nun in der Kolonne, die sich wie eine gefrässige Schlange ins Churer Rheintal wand.
«The New Earth» tönte aus den Lautsprechern. Vielleicht würde der Tag doch nicht so toll werden, überlegte ich mir.
Ich hatte endlich den Master geschafft – nach dem zweiten Anlauf. Danach würde später niemand fragen. Ich durfte mich von nun an Allegra Cadisch mit Master in Law nennen. Es war mir, als hätte ich begriffen, worum es in meiner Ausbildung gegangen war. Ich hatte einen Meilenstein gelegt, um nicht als Dauerstudentin zu enden. Ich hatte einen Abschluss. Der erste Schritt in mein Berufsleben. Mein eigenes Geld verdienen. Frei sein.
Ich hatte alles auswendig gelernt, um die Prüfungen zu bestehen. Bis zu dem Tag, als ich von den Professoren wie von Blutegeln ausgesaugt wurde. Ich war Juristin, dennoch hatte diese Tatsache mein Gehirn noch nicht ganz erreicht.
Nach dem Master hatte es nicht schnell genug gehen können, sämtliche Ordner in den Bücherschrank zu stopfen. Ich hatte einfach genug von Paragrafen und seitenlangen Fallstudien. Von Kapiteln und Textquellen, die meine eigene Logik zunichtemachten. Phantasie hatte an der Fakultät für Rechtswissenschaften keinen Platz, nicht einmal eine kleine Abweichung, bedingt durch mein Bauchgefühl.
Es stand mir zu, jetzt mein Leben zu geniessen, wie es andere Frauen in meinem Alter taten.
Ich fühlte mich frei. Frei nach diesem Jahr in der Gefangenschaft des Lernens.
Und nun dieser Stau. Ungewohnt zu dieser Zeit.
Es sei ein Winter wie im Bilderbuch, hatte mir Dario in seiner letzten Mail mitgeteilt. Beste Schneeverhältnisse und fast täglich