: Ina May
: Kratzat
: Emons Verlag
: 9783960410072
: 1
: CHF 6.80
:
: Krimis, Thriller, Spionage
: German
: 240
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Evelyn Eberius, Erste Bürgermeisterin von Nesselwang, leidet seit einem Unfall unter Gedächtnislücken. Spielt ihr der Verstand also einen Streich, als sie einem Mann begegnet, der eigentlich schon seit Jahrzehnten tot ist? Vor fünfunddreißig Jahren soll er seine Freundin am Kögelweiher ermordet und sich anschließend selbst das Leben genommen haben. Evelyn folgt einer längst erkalteten Spur - und einer vergangenen Liebe, die sie tiefer in ihre eigene Vergangenheit führt, als gut für sie ist. Der Tod ist nicht das Ende: Liebe, Leidenschaft und Mord im Allgäu.

Ina May wurde im Allgäu geboren und verbrachte einen Teil ihrer Jugend in San Antonio/Texas. Nach ihrer Rückkehr in die bayerische Heimat absolvierte sie ein Sprachenstudium und arbeitete als Fremdsprachen- und Handelskorrespondentin für amerikanische Konzerne. Heute ist sie freie Autorin und lebt mit ihrer Familie im Chiemgau.

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Ma sieht it in d’ Leit nei, bloß nah dra
Oder: Man kann den Leuten nur bis vor den Kopf schauen

Evelyn hatte zwei Seminartage der Bayerischen Akademie für Verwaltungsmanagement für Bürgermeister und Bürgermeisterinnen überstanden, zuhörend und schreibend, und sich in ihre Schulzeit zurückversetzt gefühlt.

Wie eine Managerin kam sich Nesselwangs Erste Bürgermeisterin trotzdem meist nicht vor. Sie mochte die Landeshauptstadt, aber im Auto erschien ihr München wie ein böswilliger Gegner, der ständig neue Überraschungen parat hatte. Sie hatte keinen Nerv für endloses Rumgefahre gehabt und sich für den Bus entschieden. Als sie endlich an der Kurapotheke in Nesselwang ausstieg, kündigte sich ein gutes Gefühl an: fast daheim.

Wie auf einem Gemälde schichteten sich die Bergketten von den Allgäuer Alpen bis zur Zugspitze hintereinander auf, jedes Detail war deutlich zu sehen, die Luft warm und klar. Was Föhn bedeutete. Etwas in der Art herrschte auch in ihrem Kopf, nur mit weniger Klarheit. Evelyn freute sich auf Ruhe, darauf, die Eindrücke, die endlosen Gespräche und den massiven Input hinter sich zu lassen. Im V-Markt würde sie schnell noch eine Kleinigkeit zu essen einkaufen und alles Weitere auf später verschieben.

Evelyn deutete in der dem Supermarkt angegliederten Bäckerei gerade auf eine belegte Semmel, um sie sich einpacken zu lassen, als sie ihn bemerkte. Das Unerwartete hatte sie schon des Öfteren verblüfft, doch selten war es derart eindrucksvoll gewesen.

Die Überraschung kam direkt aus dem Grab.

Er stand an einer der Kassen, kramte in seinem Geldbeutel nach kleinen Münzen und lächelte die Kassiererin entschuldigend an. »Ich hab’s gleich.«

Evelyn stockte der Atem. Sie starrte ihn unhöflich an, obwohl sie doch ein paar Jahre zu alt zum Starren war. Für einen Augenblick stand alles still.

Jörg Heider war zurückgekommen.

Sie lief die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf, drehte den Schlüssel im Schloss und stellte die kleine Reisetasche im Gang ab. Sie hatte keinen Appetit mehr, sie war sich sicher, keinen Bissen hinunterzubringen.

Die Eindrücke ließen sich nicht einfach abschütteln. Wenn sie ihn gesehen hatte, mussten es auch andere getan haben. Aber hatte sie ihn tatsächlich gesehen? Sie streifte sich ihre Schuhe ab und ließ sich aufs Bett sinken.

Du hast ein echtes Problem mit der Wirklichkeit.

Evelyn musste zugeben, dass sie manches Mal unleugbar ein Problem hatte zu erkennen, woraus die Realität bestand.

»Jörg ist tot.« Ihr eigenes Flüstern erschreckte sie. Oder hatte sich ihre Erinnerung die Bilder nur geborgt? Seit ihrem Unfall wies ihr Gedächtnis große Lücken auf, und an Jörg Heider hatte sie lange nicht mehr gedacht, nicht denken wollen.

Die Kirchenglocken läuteten. Zwei Mal, Pause, dann setzten sie wieder ein. Jemand war gestorben. Irgendwo klingelte ein Handy. Und klingelte, klingelte. Der Ton kam ihr vertraut vor.

Ihr