: Alexander Ilitschewski
: Der Perser Roman
: Suhrkamp
: 9783518742433
: 1
: CHF 41.00
:
: Erzählende Literatur
: German
: 750
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Eine Dienstreise führt Ilja, einen russischen Geologen, der in den chaotischen neunziger Jahren aus Moskau nach Kalifornien ausgewandert ist, zurück in die Heimat: Im Auftrag eines internationalen Konzerns besucht er Baku und die Halbinsel Apscheron am Kaspischen Meer, seit den Zeiten der Nobels und Rothschilds Standort der Ölförderung. Die ehemals sowjetischen Anlagen gehören heute amerikanischen und arabischen Firmen. Ilja, der Erdölexperte, trifft seinen Schulfreund Chaschem wieder, einen Ornithologen, der im Naturschutzgebiet Schirwan an der iranischen Grenze eine Falkenkolonie bewacht. Der gebürtige Perser wirkt auch als Künstler, Heiler und tanzender Derwisch. Seine Aura, seine Energie ziehen Ilja in Bann, Chaschems Lebensweise, ganz der Natur, der Spiritualität hingegeben, stellt seine eigene Existenz in Frage. Mit seismographischem Gespür entfaltet Alexander Ilitschewski eine Geopoetik des Kaspischen Raums: verlorener Garten Eden, historische Landschaft, in der einst die Weltreligionen zusammenfanden, heute eine in geopolitischer, sozialer und ökologischer Hinsicht höchst sensible Zone, deren Zukunft dem Westen bereits zu entgleiten beginnt. Alexander Ilitschewski, herausragender Autor seiner Generation, hat einen stimmgewaltigen, komplexen, enzyklopädischen Gegenwartsroman geschrieben, ein Buch aus dem Geiste Musils und Pynchons. »Ein in jeder Hinsicht außergewöhnlicher Roman.« Ilma Rakusa

<p>Alexander Ilitschewski, 1970 in Sumgait/Aserbaidschan geboren, wuchs in Moskau auf und studierte dort Mathematik und Theoretische Physik. Nach Arbeitsaufenthalten in Israel und den USA kehrte er 1998 nach Russland zurück. Sein umfangreiches Werk wurde vielfach ausgezeichnet. Der Roman<em>Matisse</em gt;(2006) erschien in diesem Jahr auf Deutsch.<em>Der Perser</em> (2012), sein Hauptwerk, wird zurzeit in mehrere Sprachen übersetzt. Seit 2013 lebt Ilitschewski wieder in Israel.</p>

ERSTES KAPITEL


Polina


1


 Amelia Earhart und Polarflieger Lewanewski standen auf der Liste ihrer Heiligen obenan. Solange sie zurückdenken konnte, hatte sie vom Fliegen geträumt, sich für die Orte interessiert, an denen berühmte Piloten zu Tode kamen; als Schulkind hatte sie den Flugzeugmodellbauzirkel besucht und später den Segelfliegerklub, in Klasse sieben ihren ersten Fallschirmsprung absolviert. Das Photo der Amelia, worauf sie lächelnd, mit baumelnden Füßen auf dem Rand des Cockpits saß, hing schön gerahmt über der Karte mit den großen Transatlantikflügen. An die Decke ihres Zimmers war ein dreiflügeliger Propeller geschraubt: das Original der legendärenAiracobra von Pokryschkin, dem Fliegerass; auf den Propellerblättern vier schartige Einschüsse und ein Riss. Ihr Vater, als er 1943 den Flugplatz neben die Bahnstation Nasosnaja baute, hatte das Teil bei Pokryschkins Techniker gegen ein sieben Zentner schweres Belugastörweibchen eingetauscht. Die amerikanische Antwort auf dieMesserschmitts war seinerzeit per Lend-Lease über den Persischen Golf gekommen; unsere Flieger hatten die knuffigen Bomber aus dem Iran überführt und von da an ihre Kriegseinsätze damit geflogen. Eine Konstruktionszeichnung derCobra war das Erste, was sie sah, wenn sie morgens die Augen aufschlug – eigenhändig ausgeführt im Maßstab 1:5 auf mehreren aneinandergeklebten Bögen Whatmanpapier, nach einer Zeitschriftenvorlage. Mit sechzehn hatte sie vierundsiebzig Sprünge auf ihrem Konto, fünfzehn davon Freifall. Zartgliedrig, blond und schmal, wie sie damals war, hatte sie Mühe, den Fallschirmrucksack zu tragen; dafür konnte sie dasPoem von der Luft der Zwetajewa und MajakowskisWolke in Hosen mühelos und ohne zu stocken herdeklamieren, zum Beispiel auf Wanderung in den Bergen oder bei der Gymnastik am Meeresstrand: auf einer Bank stehend, Gesicht, Brust und Arme dem ersten Morgensonnenstrahl entgegengereckt – Frühsport mit Gedichten, das bekam den Lungen gut.

Es war in den Sommerferien nach der neunten Klasse, als die Kurzsichtigkeit über sie hereinbrach; ihr war immerzu, als hätte sie Staub in den Augen; die drei Dioptrien mochte sie lange nicht wahrhaben, weigerte sich bis zum Ende der Schulzeit, in die leere vorderste Bank zu wechseln; lieber blinzelte sie ständig und studierte die Gesichter der Kinohelden zu Beginn des Films einmal gründlich durch den Spalt zwischen den Polstern ihres gekrümmten Zeigefingers, der ein gutes Fernrohr war.

Vom Traum zu fliegen jedoch hatte sie sich damals verabschieden müssen.

2


So war sie die Einzige, die nicht das Weite suchte, stehenblieb wie angewurzelt, als Iwantschenko, der verwegene »Maisbomber«-Pilot, im Hinblick auf das abendliche Tanzvergnügen ein bisschen renommieren wollte und vor den zur Baumwollernte abgestellten Studentinnen sein verrücktes Manöver abzog. Nur einmal flog er zur Warnung über die Mädchen hinweg, dann kam er, ohne mit der Wimper zu zucken, im Sinkflug auf sie zugeschossen. Das Grüppchen stob auseinander – sie aber wandte nur den Kopf nach der Libelle, die sich ihrer Nasenwurzel näherte, eine Wolke über den hellgrauen Pflanzreihen versprühend, die blitzende Schraube immer größer, das Fahrwerk starr, der bebrillte Kopf des Piloten ebenso … Sie sah die im Fluch sich kräuselnden Lippen, das abgewetzte Leder de