: Wolfgang Schneider, Ralf Dohrenbusch, Harald J. Freyberger, Peter Henningsen, Hanno Irle, Volker Köl
: Wolfgang Schneider, Ralf Dohrenbusch, Peter Henningsen, Harald J. Freyberger, Hanno Irle, Volker Köllner, Bernhard Widder
: Begutachtung bei psychischen und psychosomatischen Erkrankungen Autorisierte Leitlinien und Kommentare
: Hogrefe AG
: 9783456955650
: 2
: CHF 39.10
:
: Allgemeines
: German
: 664
: Wasserzeichen/DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: PDF
Die Begutachtung der beruflichen Leistungsfähigkeit bei psychischen und psychosomatischen Erkrankungen in unterschiedlichen Versicherungs- und Rechtskontexten hat in den letzten zehn Jahren erheblich an Bedeutung zugenommen. Jedoch weist die Begutachtung von psychischen und psychosomatischen Krankheiten inhaltlich und methodisch erhebliche Probleme auf, die sich insbesondere auf die Validität der gutachterlichen Bewertung auswirken. Die Autoren des vorliegenden Buches haben im Rahmen einer interdisziplinären und multizentrischen Kooperation Standards zur Begutachtung der beruflichen Leistungsfähigkeit und von Kausalitätsfragen bei psychischen und psychosomatischen Erkrankungen mit dem Ziel entwickelt und evaluiert, die Begutachtung zukünftig methodisch einheitlicher, valider und den Prozess der Entscheidungsfindung transparenter zu gestalten. Diese Standards sind von den relevanten Fachgesellschaften der Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlicher Medizinischer Fachgesellschaften (AWMF) als Leitlinie autorisiert worden. Die Manualisierung des Begutachtungsleitfadens sowie die ausführliche und kompetente Darstellung der unterschiedlichen methodischen Herangehensweisen sowie Praxisbeispiele erleichtern die praktische Anwendung für ärztliche und psychologische Gutachter, Juristen und Versicherungsmitarbeiter.
1 Die psychosozialen Hintergrundbedingungen von Begutachtungsfragestellungen bei psychischen und psychosomatischen Erkrankungen (S. 25-26)
Wolfgang Schneider

Einleitung

Begutachtungsfragen nehmen in unterschiedlichen Kontexten und Rechtsgebieten eine wachsende Bedeutung ein. Dabei spielen die psychischen und psychosomatischen Erkrankungen eine zahlenmäßig bedeutende Rolle, die sich unter anderem aus den im Folgenden dargelegten Aussagen zur Relevanz dieser Erkrankungen erklärt.

Epidemiologische Schätzungen der WHO gehen davon aus, dass die Jahresprävalenz psychischer und psychosomatischer Erkrankungen der europäischen Bevölkerung bei ca. 30 % liegt (Wittchen und Jacobi, 2005). Aktuelle epidemiologische Daten für Deutschland, die im Rahmen der vom Robert Koch-Institut durchgeführten Studie zur Gesundheit Erwachsener, erweitert um den Zusatzmodul Mental Health (DEGS1-MH; Jacobi et al., 2013) erhoben worden sind, schätzen die Ein- Jahres-Prävalenzrate einer beliebigen psychischen Erkrankung in der erwachsenen Allgemeinbevölkerung auf 27,7 %. Dabei finden sich jedoch große zahlenmäßige Unterschiede zwischen den einzelnen Störungsgruppen. Die höchste Prävalenz weisen die Angststörungen mit 15,3 % auf, gefolgt von den affektiven Erkrankungen (9,3 %) und den Störungen durch Substanzgebrauch (5,7 %). Zugleich belegt die Studie eine hohe Komorbiditätsrate. Nur etwa die Hälfte der als psychisch erkrankt identifizierten Personen wies nur eine psychische Erkrankung auf. Untersucht in dieser Studie wurde eine repräsentative Stichprobe mit 5317 Erwachsenen im Alter von 18 bis 79 Jahren.

Die Arbeitsunfähigkeitszeiten haben von 1996 bis heute kontinuierlich abgenommen, was wohl als Ausdruck des hohen Druckes auf dem Arbeitsmarkt zu werten ist. Dem gegenüber haben sich die AU-Zeiten für die psychischen und psychosomatischen Erkrankungen in diesem Zeitraum mehr als verdoppelt. Die Dauer der AUSchreibungen wegen psychischer Erkrankungen liegt im Mittel auch deutlich über der Dauer der AU-Zeiten anderer Erkrankungen, wobei darauf hingewiesen werden muss, dass die Zahlen über die Krankenkassen u. a. in Abhängigkeit von der Versichertenstruktur (z. B. dem Alter der Versicherten) variieren. Bemerkenswert ist im Weiteren, dass Erwerbslose nahezu doppelt so häufig arbeitsunfähig geschrieben werden als erwerbstätige Individuen. Die Bedeutung psychischer Erkrankungen im System der medizinischen Versorgung zeigt sich auch darin, dass sich die Verschreibungen von Antidepressiva sich zwischen 2000 und 2010 verdoppelt haben (Techniker Krankenkasse, 2010).

Auch bei den Erwerbsunfähigkeitsrenten stellen die psychischen und psychosomatischen Erkrankungen die zahlenmäßig größte Krankheitsgruppe sowohl in Deutschland als auch in der gesamten EU dar. Bei den Zugängen zu Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit im Jahr 2013 hatten etwa 42 % die Erstdiagnose einer psychischen Erkrankung; 48 % bei den Frauen und ca. 35 % bei den Männern (Bundespsychotherapeutenkammer, 2014). Wenn weiter berücksichtigt wird, dass den psychosozialen Faktoren auch ein großer Einfluss auf die Chronifizierungsprozesse von Organerkrankungen zukommt, ist zu vermuten, dass auch bei Rentenanträgen bei diesen Erkrankungen psychosomatische Faktoren eine wichtige Rolle spielen. Auch bei den Anträgen auf Gewährung einer privaten Berufsunfähigkeitsrente sind die psychischen und psychosomatischen Krankheiten bzw. psychosomatische Komplikationen bei chronischen Organerkrankungen von besonderer Relevanz (s. Kap. 13).

Wenn heute oftmals in unterschiedlichen Foren, den Medien und in der Sozialpolitik formuliert wird, dass psychische Erkrankungen an Häufigkeit zunehmen würden, muss jedoch berücksichtigt werden, dass sich in den letzten zwei Jahrzehnten die öffentliche Sensibilität für die Wahrnehmung und Benennung von psychosozialen Problemen erhöht hat, und dass wohl auch die Kompetenz und Bereitschaft von Ärzten angestiegen ist, eine psychische oder psychosomatische Erkrankung zu diagnostizieren. Im Folgenden möchte ich mich mit den gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen der Entstehung und des Verlaufs von psychischen und psychosomatischen Erkrankungen befassen. Diese interagieren vielfältig und hoch komplex und im Einzelfall wird das Bedingungsgefüge psychischer Erkrankungen sowie dessen Auswirkungen auf die psychosoziale Anpassungsfähigkeit des Individuums durchaus verschieden sein. Es geht in den nächsten Abschnitten darum, relevante Akzentuierungen der Wechselwirkung zwischen der Gesellschaft und ihren Institutionen sowie dem Individuum aufzuzeigen, die für die Entstehung, die Chronifizierung und letztlich für den Anspruch bzw. die Motive des Einzelnen von Bedeutung sind, aufgrund seiner Erkrankung eine Rente jedweder Art oder eine Entschädigung zu...
Begutachtung bei psychischen und psychosomatischen Erkrankungen4
Inhalt6
Vorwort zur 2.?Auflage14
Vorwort18
Teil 1 Theoretische Aspekte24
?1 Die psychosozialen Hintergrund­bedingungen von Begutachtungs­fragestellungen bei psychischen und psychosomatischen Erkrankungen26
1.1 Einleitung26
1.2 Exkurs: Die gesellschaftliche Dimension und die Entwick­­lungen in der Arbeitswelt in ihren psychosozialen Auswirkungen29
1.3 Der Einfluss der öffentlichen Meinung und der Medien – Medikalisierungsprozesse33
1.4 Der Weg in die Rente35
1.5 Probleme der Begutachtung psychischer und psychosomatischer Erkrankungen38
Teil 2 Diagnostische Methodender Begutachtung44
?2 Das diagnostische Interview46
2.1 Grundsätzliches46
2.2 Ebenen des gutachtlichen diagnostischen Interviews47
2.3 Subjektivität des diagnostischen Interviews50
2.4 Anwesenheit Dritter und Fremdanamnese50
2.5 Aufbau des gutachtlichen diagnostischen Interviews51
3 Die Erhebung von Zusatzbefunden: körperliche Untersuchung, Serumspiegelbestimmungen von Medikamenten und apparative Zusatzuntersuchungen54
?4 Zur Bedeutung der Testpsychologie beiICF-orientierter Begutachtung58
4.1 Aktueller Stellenwert psychologischer Messverfahren in psychiatrischer und psychosomatischer Begutachtung59
4.2 Risiken eines ausschließlich interviewbasiertendiagnostischen Zugangs61
4.3 Prinzipien psychologischer Messung64
4.4 Testanwendung77
4.5 Standardisierte dimensionale Diagnostik gängiger Aktivitäts- und Fähigkeitsmaße89
4.6 Schlussfolgerungen zum Einsatz psychologischer Testverfahren in der Begutachtung von Personen mit psychischen Störungen112
5 Das Interview aus aussagepsychologischer Perspektive: Validierung explorationsbasierter Informationen117
5.1Stärken und Schwächen diagnostischer Interviews117
5.2 Das Gedächtnis des Befragten als Ausgangspunktder Befragung119
5.3 Aussagepsychologische Implikationen123
5.4 Bedingungen valider Datenerhebungen: einige Empfehlungen zum explorativen Vorgehen in der Begutachtung128
6 Diagnostik des prämorbiden Zustandes bei der Kausalitätsbegutachtung134
6.1 Probleme der Prämorbiddiagnostik135
6.2 Diagnostik prämorbider Störungen:Sicherung des Krankheitswertes138
6.3 Diagnostik einer störungsspezifischen Schadensanlage140
6.4 Diagnostik «allgemeiner» prämorbider Vulnerabilität144
6.5 Diagnostik des prämorbiden Funktionsniveaus147
6.6 Diagnostik prämorbider situativer Bedingungen151
?7 Psychologische Methodender Beschwerdenvalidierung153
7.1 Psychologische Testdiagnostik und Neuropsychologie153
7.2 Grenzen der Aussagefähigkeit standardisierter Testverfahren156
7.3 Negative Antwortverzerrungen, Auftreten und Bedeutung in der Begutachtung157
7.4 Methoden zur Beschwerdenvalidierung160
7.5 Alternativwahlverfahren, Beschwerdenvalidierungstests im engeren Sinne162
7.6 Eingebettete Beschwerdenvalidierungsindikatoren167
7.7 Selbstbeurteilungsverfahren, Fragebogenmethoden168
7.8 Konsistenz- und Plausibilitätsprüfungen174
7.9 Absicherung von Aussagen zur Konsistenz und Plausibilitätvon Beschwerdeschilderungen175
7.10 Plausibilität im Rahmen wissenschaftlich/empirischgestützter Modelle178
7.11 Empfehlungen für die Begutachtung183
?8 Wie theoretisch fundiertsollte die Begutachtung psychischer und psychosomatischer Erkrankungen sein?190
8.1 Klassifikatorische Diagnostik als Ausgangspunktder Status-quo-Bewertung191
8.2 Verknüpfung von Status-quo-Diagnostik und entwicklungsgeschichtlichem Hintergrund194
8.3 Konzepte der Psychoanalyseund der psychodynamischen Theorie195
8.4 Konzepte der Lern- und Handlungstheorie199
8.5 Grenzen der gutachterlichen Ausrichtung an tiefenpsychologischen oder lern- und handlungstheoretischen Konzepten201
8.6 Das Verhältnis von Psychotherapie und Begutachtung203
8.7 Auf dem Weg zu einer theoriegeleiteten und empirisch fundierten Begutachtung204
8.8 Fazit207
9 Vom Befund bis zur Stellungnahme – Empfehlungen zur leitfadengestützten gutachterlichen Urteilsbildung210
9.1 Allgemeine Hinweise210
9.2 E