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Sonntag, achter Juni
Julie Roche rieb sich den Schlaf aus den Augen. Etwas hatte sie geweckt. Bestimmt wieder der verfluchte Hahn von Hector. Irgendwann, da war sie sicher, würde sie ihm im Dunklen auflauern, ihn fangen, ins Auto packen und an einen fernen Ort bringen, so weit weg, dass er sie nie wieder aus den Federn kreischen konnte. Julie schmunzelte. Welche Strafe stand wohl auf die Entführung eines arroganten, nordfranzösischen Hahnes? Yanick, ihr Kollege und bester Freund, hatte ihr den schnellsten Weg empfohlen, den unliebsamen Wecker aus dem Weg zu räumen. Hals umdrehen! Aber das wäre Julie dann doch zu weit gegangen.
Sie setzte sich in ihrem Bett auf und beobachtete, wie Sonnenstrahlen durch die Ritze zwischen den geschlossenen Vorhängen ins Innere ihrer Behausung drangen. Die Vögel zwitscherten und der Wind schien an diesem Morgen ausnahmsweise eine Pause einzulegen.
Die letzten Wochen waren ungewöhnlich kalt für den Monat Juni gewesen, selbst hier im Norden. Julie hatte mit dem Gedanken gespielt, eine Versetzung in den warmen Süden zu beantragen. Vielleicht an die Côte d’Azur? Was hielt sie denn noch hier? Das Wetter sicherlich nicht.
Sie schnappte sich einen Haargummi und band sich ihre schwarzen Locken zusammen. Dann trat sie vor die Tür und setzte sich auf die Stufen ihres Wohnwagens.
Vor ihr lag eine große grüne Wiese, auf der dutzende Hühner pickend umherliefen. Am Ende der Grasfläche standen Stallungen, in denen sich Schweine und Rinder befanden. Hector und seine Frau Gwenaëlle betrieben diesen Biobauernhof, auf dem im Sommer auch Feriengäste unterkamen.
Julie seufzte. Wie lange wohnte sie nun schon hier? Im Kopf überschlug sie die Tage, Wochen und Monate. Es war fast ein halbes Jahr her, dass sie Frank, ihren Ehemann, mit einer hübschen, blonden Studentin im Bett erwischt hatte. Anstatt ihn rauszuschmeißen, hatte sie ihre Sachen gepackt, und war kurzerhand in das alte Wohnmobil gezogen, das seit Jahren auf dem Grundstück ihrer besten Freundin vor sich hingammelte. Ein erbärmliches Dasein, dachte sie, als sie die rostige Eisenleiter, die auf das Dach des Campers führte, betrachtete. Wie lange wollte sie so noch weitermachen?
„Na, ausgeschlafen?“ Gwenaëlle kam mit zwei bauchigen Tassen in den Händen um den Wohnwagen herum gelaufen. Sie war eine hübsche Frau mit kurzen blonden Haaren und einem festen Körperbau. Eigentlich hatte sie wie Julie französisches Recht in Rennes studiert, hatte sich dann aber auf einer Landwirtschaftsmesse, wo sie an einem Stand jobbte, Hals über Kopf in Hector, einen Landwirt aus Cancale verliebt. Schnell war Schluss mit Gesetzen und Paragraphen gewesen, und sie hatte sich entschlossen, statt einer Robe eine Hausfrauenschürze überzuziehen. Mit fester Hand führte sie nun Haushalt, Hof und ihre drei Männer, denn sie und Hector hatten mit Valentin u