: Hanna Sukare
: Staubzunge
: Otto Müller Verlag
: 9783701362325
: 1
: CHF 13.50
:
: Erzählende Literatur
: German
: 180
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wenn Matthias Röhricht von seinem Job in einem großen Konzern spricht oder zu jeder Dienstreise eine andere Assistentin mitnimmt, vermutet man nichts von seiner streng religiösen Erziehung. Als Erwachsener tut der Sohn eines evangelisch-freikirchlichen Pastors und einer Flüchtlingsfrau aus Polen so, als habe er mit seinen Eltern nichts zu tun. Das Dogma, die Gewalt und das Schweigen, die er als Kind erlebt hat, versucht er zu vergessen. Auch seine Schwester Adele lebte jahrelang distanziert von den Eltern. Sie nähert sich ihrer Mutter Jad erst wieder, als diese ihre Erinnerung verliert und nicht mehr weiß, dass Adele ihre Tochter ist. Der Tod der Mutter wird für die beiden zur Zäsur. Matthias zieht sich aus allen bisherigen Beziehungen zurück. Adele beginnt rastlos Orte aus Jads Vergangenheit zu suchen und verfällt einer Suchsucht nach der eigenen Zugehörigkeit. Neben einer Erzählerin berichten vier Frauen über Matthias Röhricht und seine Herkunftsfamilie: Röhrichts Frau, seine Schwester, eine Tante und eine Cousine. Sie weiten die Geschichte von Matthias und Adele zu einer Geschichte der Schmerzpunkte des 20. Jahrhunderts. Krieg, Rassismus, Flucht und Vertreibung melden sich in den Nachgeborenen in Form von Unruhe, seelische Erstarrung oder Phantomschmerz. Die Geschichte mit dichten, poetischen Bildern erzeugt einen Sog, dem man sich kaum entziehen kann.

Hanna Sukare geboren 1957 in Freiburg (i.Br.). Kindheit in der Breisgauer Bucht und in Heidelberg, lebt seit der Jugend meist in Wien. Studierte Germanistik, Rechtswissenschaften, Ethnologie. 1991/92 Forschungsaufenthalt in Lissabon. Hanna Sukare war unter anderem als Journalistin, Redakteurin (Falter, Institut für Kulturstudien) und Wissenschaftslektorin tätig und beschäftigte sich in wissenschaftlichen Studien mit dem gesellschaftlichen Fundus des Fremden. Seit 2001 ist sie freie Autorin. 2004 Einladung zum Autorinnenforum Berlin/Rheinsberg. 2006 Nominierung ins Finale der Floriana, oberösterreichische Biennale für Literatur. 2007 Publikation im Rahmen des schwäbischen Literaturpreises. 2008 bis 2011 zahlreiche Recherche-Reisen nach Polen, u.a. auch für den Dokumentarfilm Klassentreffen.

MATTHIAS und ADELE

Am Morgen sinkt das Gebet des Vaters auf Kakao und Haferflocken, mittags schliert es in die Suppe, abends riecht es aus den Käsebroten. Lieber Vater im Himmel, beginnt der Vater auf Erden, wir danken dir für diese Gaben, fährt er fort, und wir bitten dich, segne sie. Amen. Das Amen sprechen auch die Mutter und die beiden Kinder. Sie sind erleichtert, wenn der irdische Vater zur Anrufung des himmlischen Vaters die kurze Version wählt. Oft folgen dem Gebet die Tageslosung der Herrnhuter Brüdergemeinde und eine neuerliche Anrufung. Komm Herr Jesus sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast, das sagen die Kinder. Sie blicken zur Tür, ob noch jemand kommt, der Herr Jesus im dunklen Anzug vielleicht, sie sind überzeugt, Jesus trägt einen dunklen Anzug, weshalb sollte der Vater ihn sonst Herr nennen. Der Vater wendet sich an den Vater im Himmel, manchmal spricht er mit dem Herrn Jesus Christus, manchmal mit einem Heiligen Geist. Alle drei scheinen sie Verwandte des Vaters zu sein und etwas mit dem zu tun zu haben, den er Gott nennt. Die Kinder beneiden diese Verwandtschaft. Der Vater ist mit ihr verbündet, dreimal täglich spricht er mit ihr, den Kindern schenkt er Schweigen, nennt sie nur selten mit ihren Namen, Matthias, Adele. Über seine irdische Verwandtschaft verliert er kein Wort, zeigt kein Bild. Wenn Jesus nicht kommt und die Eltern, sobald das erlösende Amen gesprochen ist, das Besteck zur Hand nehmen, dürfen auch die Kinder zugreifen.

Wer ist der Vater auf Erden, wer ist der Vater im Himmel? Täglich ist etwas von ihnen anwesend, doch die Kinder sehen beide unscharf, verschwommen. Beide Väter sind das Gesetz. Beide wachen über das Leben der Kinder.

Sonntags steht der Vater in Früdorf auf der Kanzel, er spricht, die Gemeinde lauscht. Wer bist du? Tadelloser, von den Frommen Geliebter, hoch Stehender. Bist du der Vater? Bist du mein Vater, fragt stumm ein Kind zur Kanzel hinauf. Amen, sagt die Mutter jeden Sonntag laut aus der Kirchenbank in die Augen des Vaters. So legt sie Zeugnis ab für die Sätze von oben und versieht sie mit einem Ausrufezeichen. Schließlich verlässt der Vater seine Bühne und schreitet durch den Mittelgang hinaus. Im Portal bleibt er stehen und erwartet die Brüder und Schwestern im Herrn. Für sie findet er Worte, er schüttelt Hände. Der Vater, die ewige Präsenz. Er hat die Welt schon als Vater betreten, als Diener des Herrn, ein Fels von Anbeginn. Ein Kind kann er nie gewesen sein; und seit je hieß er Fau.

Die Wohnung ist das Zuhause, und sie ist der Amtssitz des Vaters. Das geistliche Amt hat sich als Prunkwagen unter seinen Leib geschoben. Die Karosse führt ihn mit der Mutter auf die Anhöhe der Pfarrei, erhebt die beiden über die Dorfbewohner. Schmaler Sold kommt dem Vater zu und eine ehrenhafte Stellung im Dorf. Der Vater ist hier kein Fremder, die Mutter ist kein