: Hertha Kratzer
: Alles, was ich wollte, war Freiheit Außergewöhnliche Österreicherinnen der Moderne
: Styria Verlag
: 9783990403860
: 1
: CHF 8.90
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: 20. Jahrhundert (bis 1945)
: German
: 224
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wien ist um 1900 brodelndes kulturelles Zentrum mit Höchstleistungen in Kunst und Wissenschaft. In einer Sphäre der Um- und Aufbrüche wachsen Mädchen heran, die das Korsett bürgerlicher Erziehung sprengen, als erwachsene Frauen selbstbewusst Grenzen überschreiten und erfolgreich ihren Weg gehen. Wanda von Sacher-Masoch zum Beispiel hat 'Pelz und Peitsche' satt und arbeitet als Schriftstellerin. Auch Frida Strindberg-Uhl befreit sich aus der zerstörerischen Ehe mit August Strindberg und reüssiert als Journalistin und Kritikerin. Ihren Berufswunsch Raubtierbändigerin ertrotzt sich die 17-jährige Henriette Willardt, indem sie sich in einen Löwenkäfig sperren lässt. Auch die anderen vorgestellten Österreicherinnen - die Künstlerinnen Tilla Durieux, Cilli Wang, Hedy Lamarr, die Wissenschaftlerinnen Helene von Druskowitz und Berta Eckstein-Diener, die Ärztin Gabriele Possaner und die Lazarett-Gründerin Nora Kinsky - faszinieren durch ihren Mut und die Risikobereitschaft, mit der sie nach eigenen Wertvorstellungen gelebt haben.

HERTHA KRATZER, Dr., geboren 1940 in Bruck a. d. Leitha, studierte Germanistik und Anglistik an der Universität Wien. Sie arbeitete als Lektorin, Übersetzerin und Autorin bei Wiener Verlagen. Zahlreiche Publikationen auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendliteratur und für Erwachsene; 1986 mit dem 'Österreichischen Jugendbuchpreis' ausgezeichnet.

Henriette
Willardt


DIE LÖWENBÄNDIGERIN MISS SENIDE

1866  1923

Emma Willardt ist entsetzt. Ihre sechzehnjährige Tochter Henriette steht in einem Käfig, umgeben von acht Wölfen, zwei Bären und zwei Hyänen – vor dem Käfig ein riesiger Menschenauflauf. Die Tiere verhalten sich ruhig, die Tochter droht: Sie werde den Käfig nicht eher verlassen, bis ihr die Mutter erlaube, Tierbändigerin zu werden. Das sei ihr Traumberuf. Sie hört weder auf Mahnungen noch auf Bitten, bis die Mutter keine andere Wahl hat, als zuzustimmen. Sie tut es unter Tränen. Emma Willardt, die sich ihren Lebensunterhalt mit einer Schaubude im Wiener Prater verdient, kennt die Gefahren, denen die immer beliebter werdenden Raubtierbändigerinnen ausgesetzt sind. Der Tod der erst siebzehn Jahre alten Dompteuse Ellen Chapman, die 1850 von ihrem Tiger getötet worden war, hatte in England sogar zu einem Auftrittsverbot für Frauen in Raubtierkäfigen geführt. 1886 wird die Französin Nouma-Soulet im Alter von fünfundzwanzig Jahren von ihrem Löwen zerrissen und 1888 stirbt in Prag die kaum ältere Dompteuse Bertha Baumgarten. Manche Dompteusen tragen gepolsterte Kleidung, um sich vor Bissen zu schützen, mit Peitschen, Eisenstangen oder Gabeln versucht die Tierbändigerin im Notfall sich den Rückzug aus dem Käfig zu sichern, auch um den Käfig herum postierte Zirkusmitarbeiter sollen von außen ein angreifendes Raubtier ablenken. Dass diese Maßnahmen höchst unzureichend sind, zeigt die große Anzahl von in Käfigen getöteten Dompteusen.

Emma Willardt, eine gebürtige Hamburgerin, hatte 1873, im Jahr der Wiener Weltausstellung, im Prater in der Ausstellungsstraße Nr. 147 eine Schaubude eröffnet. Sie zeigt Attraktionen wie Magie im Welt- und Zaubertheater von Fräulein Amanda mit Wandelbildern und Wachsfiguren, stellt Riesendamen und Bambutti-Zwerge, Lappländer mit Rentieren und Fidschi-Insulaner aus wie auch die Athletin Sophie Sondermann, die Riesendame Judith Matursik und das Riesenmädchen Therese. Eine Sensation und ein noch besseres Geschäft als die Schaubude ist der angeschlossene „Schnellphotographie-Salon“, in dem Tag und Nacht Ferrotypien hergestellt werden, ein fotografisches Direktpositiv-Verfahren. Später kommt noch eine Schießstätte dazu.

Natürlich wünscht sich Emma Willardt, dass ihre Tochter zunächst in dem florierenden Unternehmen mitarbeitet und es später einmal übernimmt. Aber die Tochter Henriette interessiert sich weder für die Zauberkunststücke und Kuriosa in der Schaubude noch ist die Schnellfotografie nach ihrem Geschmack. Das am 5. November 1866 geborene Mädchen wird in Bruck an der Mur in einem Mädchenpensionat erzogen und kommt im Alter von fünfzehn Jahren zur Mutter nach Wien. Sie ist vom ersten Augenblick an von den Raubtieren fasziniert, die sie in den Pratermenagerien bestaunen kann.

Frauenpower in der Manege: weibliche Leopardend