: E.M. Forster
: Auf der Suche nach Indien
: Eder& Bach
: 9783945386187
: 1
: CHF 7,10
:
: Erzählende Literatur
: German
: 384
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein Klassiker der englischen Literatur und der berühmteste Indien-Roman des 20. Jahrhunderts. Kein Autor beschrieb die britische Kolonialzeit Indiens so eindrucksvoll wie E.M. Forster. Eines von 12 bisher vergriffenen Meisterwerken aus der ZEIT Bibliothek der verschwundenen Bücher.

Edward Morgan Forster (geb. 1. Januar 1879 in London; gest. 7. Juni 1970 in Coventry) war ein englischer Erzähler und zeitweise Mitglied der Bloomsbury Group, eine einflussreiche Gruppe von englischen Künstlern, Intellektuellen und Wissenschaftlern.

Buch I
Mo­schee

1

Mit Aus­nah­me der – oh­ne­hin vier­zig Ki­lo­me­ter ab­ge­le­ge­nen – Mara­bar-Grot­ten hat die Stadt Tschan­dra­pur dem Be­su­cher nichts Un­ge­wöhn­­liches zu bie­ten. Vom Gan­ges nicht so sehr be­spült wie ge­säumt, zieht sie sich ein paar Ki­lo­me­ter weit am Ufer ent­lang, kaum zu un­ter­scheiden von all dem Un­rat, den sie so groß­zü­gig ab­la­gert. Da der Gan­ges an die­ser Stel­le nicht heilig ist, sind auf der Fluss­seite auch keine Ba­de­stu­fen zu se­hen, ja, von der Fluss­seite ist über­haupt nicht viel zu be­mer­ken. Das weite, wech­sel­vol­le Pa­no­ra­ma des Stro­mes ist von Ba­sa­ren ver­stellt. Die Stra­ßen sind dürf­tig, die Tem­pel un­an­sehn­lich, und wenn es auch ein­zel­ne statt­­liche Häu­ser gibt, so lie­gen sie doch in Gär­ten ver­steckt oder ste­hen in Hin­ter­gas­sen, de­ren Schmutz nur den ge­la­de­nen Gast nicht ab­zu­schre­cken ver­mag. Nie­mals war Tschan­dra­pur groß oder schön, aber vor 200 Jah­ren lag es an der breiten Han­dels­stra­ße, die das – da­mals kai­ser­­liche – Ober­in­di­en mit der See ver­band, und aus je­ner Zeit stam­men auch die statt­­lichen Häu­ser. Im 18. Jahr­hun­dert er­starb die Freu­de am Zie­rat, die oh­ne­hin auf die obe­ren Schich­ten be­schränkt war. Im Ba­sar­vier­tel ist nicht das Ge­ringste von Ma­le­rei, und so gut wie nichts von Schnit­ze­rei wahr­zu­neh­men. Das Holz selbst scheint aus Lehm zu be­ste­hen – je­der Stadt­be­woh­ner aus wan­deln­dem Lehm. So he­run­ter­ge­kom­men, so ein­tö­nig ist al­les, was dem Blick des Be­schau­ers be­geg­net, dass man fast wün­schen könn­te, der gan­ze Aus­wuchs wür­de bei der nächs­ten Über­schwem­mung vom Gan­ges wie­der in den Erd­bo­den zu­rück­ge­spült. Tat­säch­lich stür­zen Häu­ser zu­sam­men, er­trin­ken Men­schen, die man auch un­be­küm­mert ver­we­sen lässt, aber im All­ge­meinen bleibt die Um­riss­­linie der Stadt mehr oder we­ni­ger die Gleiche, auch wenn sie, wie ­eine nie­de­re und doch un­zer­stör­ba­re Le­bens­form, sich hier ein we­nig baucht, dort ein we­nig zu­sam­men­zieht.

Auf der dem Fluss ab­ge­wand­ten Seite sieht al­les gleich an­ders aus. Hier be­fin­det sich ein ova­lermai­dan und ein lang ge­strecktes düs­te­res Hos­pi­tal. Auf dem hö­her ge­le­ge­nen Ge­län­de in der Nähe des Bahn­hofs ste­hen ein paar Häu­ser, die wohl­ha­ben­den Eu­ra­si­ern ge­hö­ren. Hin­ter der Ei­sen­bahn, de­ren Gleise zum Fluss pa­ral­lel ver­lau­fen, senkt der Bo­den sich und reckt sich dann wie­der ziem­lich steil in die Höhe. Auf der zweiten Er­he­bung ist die kleine Be­am­ten­sta­ti­on er­rich­tet, und von hier aus ge­se­hen bie­tet Tschan­dra­pur fast ein neu­es Bild. Es ist ­eine Gar­ten­stadt, nein, keine Stadt, son­dern ein Hain, spär­lich mit Hüt­ten ge­spren­kelt. Ein tro­pi­scher Lust­gar­ten, von ­einem ed­len Strom be­spült. Die bu­schi­gen Pal­men und Nim-Bäu­me, die Man­go- und Pe­pul­bäu­me, sonst stets von den Ba­sa­ren ver­deckt, schie­ben sich nun­mehr ins Blick­feld und ver­de­cken ih­rer­seits die Ba­sa­re. Von ur­al­ten künst­­lichen Teichen ge­speist, schwin­gen sie sich aus Gär­ten, oder sie bers­ten aus er­sti­cken­dem Busch­werk und ver­fal­len­den Tem­peln. Nach Licht und Luft drän­gend und von stär­ke­ren Kräf­ten er­füllt als der Mensch und al­les von ihm Ge­schaf­fe­ne, scheinen sie über der un­te­ren Ab­la­ge­rung da­hin­zu­schwe­ben, um einan­der mit ih­ren Zweigen und win­ken­den Blät­tern zu grü­ßen, ­eine Wohn­statt für ge­fie­derte We­sen. Vor al­lem nach der lan­gen Re­gen­zeit ver­hül­len sie, was in der Tie­fe vor sich geht, aber im­mer von Neu­em ver­klä­ren sie, auch ver­dorrt oder un­be­laubt, in den Au­gen der weiter oben hau­sen­den Eng­län­der das Bild der Stadt. Des­halb ver­mag auch der Neu­an­kömm­ling die­se Stadt zu­nächst nicht für so küm­mer­lich zu hal­ten, wie er es nach ih­rer Be­schreibung er­war­ten soll­te: erst an Ort und Stel­le wird er ge­neigt sein, sich ­eines Bes­se­ren be­leh­ren zu las­sen. Was die Be­am­ten­sta­ti­on selbst be­trifft, so löst sie keiner­lei stär­ke­re Emp­fin­dung aus. Sie ent­zückt den Be­trach­ter nicht, aber sie stößt ihn auch nicht ab. Sie ist höchst zweck­mä­ßig an­ge­legt. An weit­hin sicht­ba­rer Stel­le be­fin­det sich ein Klub­ge­bäu­de aus ro­tem Back­stein, an we­ni­ger sicht­ba­rer ein Kram­la­den und ein Fried­hof. Die kleinen Bun­ga­lows lie­gen gleich­mä­ßig ver­teilt an Stra­ßen, die einan­der recht­wink­lig schneiden. Nein, die­se Sied­lung hat nichts Häss­­liches an sich, aber wirk­lich schön ist nur die Aus­sicht, die man von ihr aus ge­nießt. Und mit der Stadt selbst hat sie nichts an­de­res ge­mein als den sie beide über­wöl­ben­den Him­mel.

Auch am Him­mel pfle­gen al­ler­lei Ver­än­de­run­gen vor sich zu ge­hen, we­ni­ger auf­fäl­­lige als die bei Fluss und bei Pflan­zen­wuchs. Bis­weilen wird der Him­mel durch Wol­ken in ­eine Land­schaft ver­wan­delt, aber für ge­wöhn­lich ist er nur ­eine weite Kup­pel, von Misch­tö­nen über­haucht. Der vor­wal­ten­de Farb­ton ist Blau, am Tage zu Weiß ver­blas­send, wo er ans Weiß der Erde rührt, nach Son­nen­un­ter­gang aber von ­einem neu­en Saum um­kränzt – Oran­ge, das nach der Höhe zu in zar­tes­tes Pur­pur über­geht. Aber der blaue Un­ter­grund bleibt be­ste­hen, auch des Nachts. Wie Lam­pen hän­gen dann von der De­cke des un­ge­heu­ren Ge­wöl­bes die Ster­ne he­rab. Der Ab­stand zwi­schen beidem ist win­zig klein, ver­g­lichen mit der da­hin­ter sich breiten­den Fer­ne, und die­se fer­ne­re Fer­ne hat, wenn­gleich dem Be­reich al­ler Far­be ent­rückt, als Letzte das Blau von sich ab­ge­tan.

Es ist der Him­mel, der al­les ver­fügt – nicht nur die Wech­sel­folge des Wet­ters, der Jah­res­zeiten, son­dern auch den Au­gen­blick, in dem die Erde sich wie­der zu schmü­cken hat. Aus eige­nen Kräf­ten ver­mag die Erde nur we­nig zu tun, es sei denn, dass sie hie und da ein paar Blu­men her­vor­treibt. Aber wenn es dem Him­mel ge­fällt, kann er Herr­lich­keit auf die Ba­sa­re Tschan­drap­urs nie­der­reg­nen, ein lich­tes Se­gens­zeichen von Ho­ri­zont zu Ho­ri­zont gleiten las­sen. Der Him­mel ist des­sen fä­hig, weil er so stark, so ge­wal­tig ist. Seine Stär­ke, täg­lich er­neu­ert, rührt von der Son­ne her, seine Grö­ße von der tief un­ter ihm ru­hen­den Erde. Kein Ber­ges­gip­fel stört die Rein­heit der Wöl­bungs­­linie. Meile um Meile liegt die Erde flach hin­ge­streckt, wirft sich ein we­nig auf und duckt sich wie­der. Nur im Sü­den, wo ein paar Fin­ger und Fäuste den Bo­den durch­sto­ßen ha­ben, ist die end­lo­se Flä­che ge­bro­chen. Die­se Fäuste und Fin­ger sind die Fels­hü­gel des Mara­bar, die in ih­rem In­nern die selt­sa­men Grot­ten ber­gen.

2

Das Fahr­rad fiel zu Bo­den, ehe ein Die­ner es auf­fan­gen konn­te, und...