Buch I
Moschee
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Mit Ausnahme der – ohnehin vierzig Kilometer abgelegenen – Marabar-Grotten hat die Stadt Tschandrapur dem Besucher nichts Ungewöhnliches zu bieten. Vom Ganges nicht so sehr bespült wie gesäumt, zieht sie sich ein paar Kilometer weit am Ufer entlang, kaum zu unterscheiden von all dem Unrat, den sie so großzügig ablagert. Da der Ganges an dieser Stelle nicht heilig ist, sind auf der Flussseite auch keine Badestufen zu sehen, ja, von der Flussseite ist überhaupt nicht viel zu bemerken. Das weite, wechselvolle Panorama des Stromes ist von Basaren verstellt. Die Straßen sind dürftig, die Tempel unansehnlich, und wenn es auch einzelne stattliche Häuser gibt, so liegen sie doch in Gärten versteckt oder stehen in Hintergassen, deren Schmutz nur den geladenen Gast nicht abzuschrecken vermag. Niemals war Tschandrapur groß oder schön, aber vor 200 Jahren lag es an der breiten Handelsstraße, die das – damals kaiserliche – Oberindien mit der See verband, und aus jener Zeit stammen auch die stattlichen Häuser. Im 18. Jahrhundert erstarb die Freude am Zierat, die ohnehin auf die oberen Schichten beschränkt war. Im Basarviertel ist nicht das Geringste von Malerei, und so gut wie nichts von Schnitzerei wahrzunehmen. Das Holz selbst scheint aus Lehm zu bestehen – jeder Stadtbewohner aus wandelndem Lehm. So heruntergekommen, so eintönig ist alles, was dem Blick des Beschauers begegnet, dass man fast wünschen könnte, der ganze Auswuchs würde bei der nächsten Überschwemmung vom Ganges wieder in den Erdboden zurückgespült. Tatsächlich stürzen Häuser zusammen, ertrinken Menschen, die man auch unbekümmert verwesen lässt, aber im Allgemeinen bleibt die Umrisslinie der Stadt mehr oder weniger die Gleiche, auch wenn sie, wie eine niedere und doch unzerstörbare Lebensform, sich hier ein wenig baucht, dort ein wenig zusammenzieht.
Auf der dem Fluss abgewandten Seite sieht alles gleich anders aus. Hier befindet sich ein ovalermaidan und ein lang gestrecktes düsteres Hospital. Auf dem höher gelegenen Gelände in der Nähe des Bahnhofs stehen ein paar Häuser, die wohlhabenden Eurasiern gehören. Hinter der Eisenbahn, deren Gleise zum Fluss parallel verlaufen, senkt der Boden sich und reckt sich dann wieder ziemlich steil in die Höhe. Auf der zweiten Erhebung ist die kleine Beamtenstation errichtet, und von hier aus gesehen bietet Tschandrapur fast ein neues Bild. Es ist eine Gartenstadt, nein, keine Stadt, sondern ein Hain, spärlich mit Hütten gesprenkelt. Ein tropischer Lustgarten, von einem edlen Strom bespült. Die buschigen Palmen und Nim-Bäume, die Mango- und Pepulbäume, sonst stets von den Basaren verdeckt, schieben sich nunmehr ins Blickfeld und verdecken ihrerseits die Basare. Von uralten künstlichen Teichen gespeist, schwingen sie sich aus Gärten, oder sie bersten aus erstickendem Buschwerk und verfallenden Tempeln. Nach Licht und Luft drängend und von stärkeren Kräften erfüllt als der Mensch und alles von ihm Geschaffene, scheinen sie über der unteren Ablagerung dahinzuschweben, um einander mit ihren Zweigen und winkenden Blättern zu grüßen, eine Wohnstatt für gefiederte Wesen. Vor allem nach der langen Regenzeit verhüllen sie, was in der Tiefe vor sich geht, aber immer von Neuem verklären sie, auch verdorrt oder unbelaubt, in den Augen der weiter oben hausenden Engländer das Bild der Stadt. Deshalb vermag auch der Neuankömmling diese Stadt zunächst nicht für so kümmerlich zu halten, wie er es nach ihrer Beschreibung erwarten sollte: erst an Ort und Stelle wird er geneigt sein, sich eines Besseren belehren zu lassen. Was die Beamtenstation selbst betrifft, so löst sie keinerlei stärkere Empfindung aus. Sie entzückt den Betrachter nicht, aber sie stößt ihn auch nicht ab. Sie ist höchst zweckmäßig angelegt. An weithin sichtbarer Stelle befindet sich ein Klubgebäude aus rotem Backstein, an weniger sichtbarer ein Kramladen und ein Friedhof. Die kleinen Bungalows liegen gleichmäßig verteilt an Straßen, die einander rechtwinklig schneiden. Nein, diese Siedlung hat nichts Hässliches an sich, aber wirklich schön ist nur die Aussicht, die man von ihr aus genießt. Und mit der Stadt selbst hat sie nichts anderes gemein als den sie beide überwölbenden Himmel.
Auch am Himmel pflegen allerlei Veränderungen vor sich zu gehen, weniger auffällige als die bei Fluss und bei Pflanzenwuchs. Bisweilen wird der Himmel durch Wolken in eine Landschaft verwandelt, aber für gewöhnlich ist er nur eine weite Kuppel, von Mischtönen überhaucht. Der vorwaltende Farbton ist Blau, am Tage zu Weiß verblassend, wo er ans Weiß der Erde rührt, nach Sonnenuntergang aber von einem neuen Saum umkränzt – Orange, das nach der Höhe zu in zartestes Purpur übergeht. Aber der blaue Untergrund bleibt bestehen, auch des Nachts. Wie Lampen hängen dann von der Decke des ungeheuren Gewölbes die Sterne herab. Der Abstand zwischen beidem ist winzig klein, verglichen mit der dahinter sich breitenden Ferne, und diese fernere Ferne hat, wenngleich dem Bereich aller Farbe entrückt, als Letzte das Blau von sich abgetan.
Es ist der Himmel, der alles verfügt – nicht nur die Wechselfolge des Wetters, der Jahreszeiten, sondern auch den Augenblick, in dem die Erde sich wieder zu schmücken hat. Aus eigenen Kräften vermag die Erde nur wenig zu tun, es sei denn, dass sie hie und da ein paar Blumen hervortreibt. Aber wenn es dem Himmel gefällt, kann er Herrlichkeit auf die Basare Tschandrapurs niederregnen, ein lichtes Segenszeichen von Horizont zu Horizont gleiten lassen. Der Himmel ist dessen fähig, weil er so stark, so gewaltig ist. Seine Stärke, täglich erneuert, rührt von der Sonne her, seine Größe von der tief unter ihm ruhenden Erde. Kein Bergesgipfel stört die Reinheit der Wölbungslinie. Meile um Meile liegt die Erde flach hingestreckt, wirft sich ein wenig auf und duckt sich wieder. Nur im Süden, wo ein paar Finger und Fäuste den Boden durchstoßen haben, ist die endlose Fläche gebrochen. Diese Fäuste und Finger sind die Felshügel des Marabar, die in ihrem Innern die seltsamen Grotten bergen.
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Das Fahrrad fiel zu Boden, ehe ein Diener es auffangen konnte, und...