SEIT 72 STUNDEN VERMISST
Am nächsten Morgen wachte Emma mit einem schmerzenden Kopf und schweren Gliedern auf. Verschlafen ließ sie ihre Hand unter dem dünnen Laken hervorgleiten, das in diesen heißen Tagen als Bettdecke diente, und fuhr mit den Fingerspitzen über den Fußboden neben ihrem Bett. Wo hatte sie gestern die Zigaretten liegen gelassen? Stöhnend setzte sie sich auf und ließ ihren Blick durch das schummrige Zimmer gleiten. Die dichten blauen Vorhänge schirmten das Licht des noch jungen Tages völlig ab. Es roch nach kaltem Rauch und Alkoholdunst schwebte in der Luft, von dem ihr übel wurde. Sie rieb sich die verklebten Augen und gähnte ausgiebig. Egal, wie abgeschlagen sie sich fühlte, heute hatte sie ein strammes Tagesprogramm vor sich. Eine Reihe von Befragungen stand an. Beim Gedanken an die sich sorgende, verängstigte Mutter von Marie wurde ihr noch schlechter.
Mühsam quälte sie sich aus dem Bett und schlurfte ins Bad. Sie kletterte in die Duschkabine und stellte die Temperatur auf kalt. Als das eisige Wasser ihr verquollenes Gesicht wie Tausende kleine Nadelstiche traf, schrie sie kurz auf. Sie brauste ihren ganzen Körper ab und wickelte sich zitternd in den Bademantel. Nachdem sie zwei Tassen starken Kaffee und eine blanke Scheibe Toastbrot zu sich genommen hatte, fühlte sie sich einigermaßen in der Lage, sich in die Arbeit zu stürzen. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es höchste Zeit war. Für halb elf hatte Malin einen Termin bei Carla Wolf gemacht. Zu Hause, in deren Villa auf der Hohen Warte. Diese schicke Gegend war Emma so fremd, als ob sie nicht zu ihrer Heimatstadt gehöre. In Anbetracht der reichen Politikerin, die sie heute treffen sollte, legte sie das Batikhemd allerdings wieder in den Wäschekorb zurück und entschied sich für eine blaue Cordbluse, die nur einen kleinen Kaffeefleck hatte, und Jeans ohne aufgewetzte Stellen und Löcher. Ein leichtes Make-up zauberte eine gesunde Frische ins Gesicht, die es dringend nötig hatte. Nachdem sie ihr blaues Notizbuch, mehrere Bleistifte, ihr iPad und zwei volle PackungenGitanes in die übergroße Wildlederhandtasche gestopft hatte, machte sie sich auf den Weg.
Sie parkte direkt vor der riesigen Jugendstilvilla der Wolfs und blieb noch einen Augenblick sitzen, um sich alle Informationen, die sie zu Maries Mutter gesammelt hatte, ins Gedächtnis zu rufen. Carla Wolf war eine Wiener Lokalgröße. Allein ihr Elternhaus, das der reichen Unternehmerfamilie Wolf, hatte sie von klein an regelmäßig auf die Klatschseiten der Boulevardblätter gebracht. Bei jedem Event der High Society stand sie in der ersten Reihe, sie tanzte am Opernball, saß in Talkshows und lächelte auf Wohltätigkeitsveranstaltungen in die Kameras. Als rechtsgesinnte Lokalpolitikerin hatte sich die34-Jährige jedoch nicht nur Freunde gemacht. Besonders ihre brennenden Reden gegen Abtreibung und die Homosexuellenehe hatten die promovierte Juristin einige Anhänger gekostet. Trotzdem hielten genug Wiener di