Vorwort
Lenin kam nur bis Lüdenscheid. Bis Solingen ist er nicht gekommen. Aber fünfundzwanzig Kilometer weiter östlich, im Zeltlager in Lüdenscheid, schien die Weltrevolution bereits geglückt. Die große Bühne glänzte im Sonnenlicht des jungen Morgens. Zu beiden Seiten wehten die roten Fahnen. Von der Wiese her klimperten schon die Gitarren von Christiane und Fredrik Vahle, eine kleine Schar Kinder hatte einen Kreis um sie gebildet, die anderen schliefen noch in den Zelten. Wieder und wieder hatten wir gestern Abend ihre Lieder gesungen: das Lied von der Rübe, die der kleine Paul nur mit Hilfe der »Italiener-Kinder« aus der Erde ziehen kann, vom Hasen Augustin, der den dicken Jäger verarscht, und vom Fisch Fasch, dem faulen Nutznießer, dem die erbosten Arbeiter den weißen Hintern versohlen. Wir kannten sie alle von der Kinderplatte.
Die Lager fanden jedes Jahr statt, aber für Hanna und mich war es 1974 das erste Mal. Überall prangten die Embleme derDKP und der Naturfreunde, hier im Bergischen Land war beides nahezu identisch. Zu Tausenden waren die Parteimitglieder derKPD nach dem Verbot in den Fünfzigern der Naturfreundebewegung beigetreten und hatten sie fest in der Hand.
Ich setzte mich zu Christiane und Fredrik und sang mit. Es roch nach feuchtem Gras und nach dem Feuer der letzten Nacht. Allmählich wurde es wärmer. Die roten Fahnen hingen ruhig herab, es war jetzt windstill. Ich streckte mich auf die Wiese und gab mich der Stimmung hin, und immer wieder kam es mir unglaublich vor, so mittendrin zu sein unter Gleichgesinnten. Wie selten hatte ich dieses Gefühl, einer größeren Gruppe zuzugehören als meiner Familie. Hanna schien es genauso zu gehen, den gestrigen Tag über hatten wir uns kaum gesehen, ein jeder war seine eigenen Wege gegangen in dem unübersichtlichen Wust von Angeboten.
Auch heute gab es viel zu tun. Ich feilte eine ziemlich klobige Eule aus einem Ytong-Stein, las das ersteTim-und-Struppi-Heft meines Lebens und motivierte ein paar Kinder zu einem improvisierten Theaterstück auf der großen Bühne. Dann kam der Auftritt der Roten Grütze, eines Kindertheaters aus Berlin. Wir ärgerten uns, dass wir den Platz räumen mussten. Das Stück war doof. Es ging ziemlich viel um Kacka und Pipi. Warum die Linken das so toll fanden, wollte mir nicht in den Kopf. Auf der Bühne hatten alle Darsteller Unterhemden an, und auf den Hemden der Frauen waren mit gelber Farbe Brüste aufgemalt; sehr ansprechend war das nicht.
Die Erinnerung ist wie ein Autoscheinwerfer, der mal ein Haus, mal ein Gesicht der Dunkelheit entreißt. Denke ich an Lüdenscheid, sind es die Käfer, die vielen Junikäfer, die am frühen Abend aus der Erde krochen. Maikäfer kannte ich, hatte ich schon gesehen, aber die kleineren Junikäfer noch nie. Überall auf der Wiese brummte es. Aus den Büschen am Rand kam das Gekicher der Gruppenleiter und ihrer Freundinnen.
Im Zelt zeigte Hanna mir ein T-Shirt, das sie nachmittags unter Anleitung mit dem Händedruck bemalt hatte, dem Zeichen der Naturfreunde und der Kommunisten. Sie sagte, dass sie von nun an bei den »Jungen Pionieren« mitmachen wollte und dass sie sich dann wohl ihre langen Haare abschneiden müsste, weil sie nicht zeltlagertauglich wären. Tatsächlich waren sie verfilzt und hingen voller Kletten. Hinter ihr sah ich ein älteres Mädchen, das ihr T-Shirt auszog. Ihre Brüste waren nicht aufgemalt, sie machten ein kribbeliges Gefühl. Ich hätte sie länger angeg