KAPITEL 2: Die Dame im Zug
„Verzeihung, ist dieser Platz noch frei?“
Stableford sah von seinem Frühstück auf und verlor sich in einem graublauen Augenpaar. Vor ihm stand eine junge Frau von sieben- oder achtundzwanzig Jahren. Sie war schlank, trug ein grünes Tweedkostüm, dunkle Strümpfe und flache Schuhe. Ihr ovales, von kupferfarbenen Locken umrahmtes Gesicht war das Schönste, was er seit Langem gesehen hatte. Während er noch ungläubig darüber nachdachte, ob sich die oft besungene Liebe auf den ersten Blick so anfühlen mochte, bemerkte er, wie sich ihr zunächst freundlicher Gesichtsausdruck zusehends in Empörung verwandelte.
„Hat es Ihnen die Sprache verschlagen? Ist dieser Platz noch frei oder ist der Tisch für Sie und Ihre schlechten Manieren reserviert?“
Der scharfe Ton ließ ihn aus seiner Starre erwachen.
„Entschuldigung, nein – ich meine ja, der Platz ist noch frei“, stammelte er. Dabei spürte er, wie Wut in ihm aufstieg. Wer war dieses schnippische Geschöpf, das ihm jetzt gegenübersaß und ihn gegen seinen Willen so verzauberte? Aber geschah es tatsächlich gegen seinen Willen? Während Stableford dieser Frage nachhing, begann sich sein Ärger zu legen. Er hatte – nun vollends verwirrt – das brennende Bedürfnis, den missglückten Erstkontakt durch eine leichte Unterhaltung wiedergutzumachen, obwohl das seichte Geplauder definitiv nicht seine Stärke war. Von ihrer barschen Art und seinen eigenen Gefühlen verunsichert, verwarf er nacheinander „das Wetter“, „das Reisen mit der Eisenbahn“ und „die neuesten West-End-Produktionen“ als mögliche Themen und zog es schließlich doch vor zu schweigen.
Das war seit Jahren seine sichere Festung, ein Ort, an dem er sich wohlfühlte und den er nur selten verließ. Und doch ertappte er sich jetzt dabei, wie er die junge Frau gebannt beobachtete. Erst als sie aus ihrer Tasche ein Buch hervorholte und – ihn demonstrativ ignorierend – darin zu lesen begann, eröffnete sich ihm ganz unverhofft die Chance auf ein Gesprächsthema, bei dem er sich sicher fühlte. Es war ein Detektivroman, den er kannte, denn Detektivromane waren seine heimliche Leidenschaft.
„‚Der Mord am Viadukt‘, ein gutes Buch“, begann er vorsichtig und etwas mühsam. „Wussten Sie, dass der Autor ein katholischer Priester ist?“
„Nein, das wusste ich nicht, aber sicherlich wird mir dieser wertvolle Hinweis helfen, die ethisch-moralische Dimension eines völlig banalen Rätselromans besser zu begreifen. Sie müssen sich nicht mit mir unterhalten, nur weil ich an Ihrem Tisch sitze.“
„Ich unterhalte mich eigentlich gern“, log Stableford, dann ergänzte er gereizt: „Und, nebenbei bemerkt, ein wenig ethisch-moralische Dimension würde Ihren Manieren sicherlich nicht schaden.“
Sie sah auf und für einen Moment hatte er das instinktive Bedürfnis, in Deckung zu gehen. Doch der erwartete Angriff blieb aus. Stattdessen musste sie lachen und Stableford stimmte erleichtert ein.
„Wollen wir Frieden schließen?“, fragte er. „Mein Name ist John Stableford, und nur für den Fall, dass Sie mich weiter ignorieren wollen, möchte ich noch anmerken, dass das Rührei hier nicht zu empfehlen ist.“
„Nennen wir es zunächst einen Waffenstillstand, wenn Sie einverstan