: Irene Ruttmann
: Das Ultimatum Roman
: makrobooks
: 9783945944042
: 1
: CHF 4.40
:
: Erzählende Literatur
: German
: 100
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Im November 1958 fordert Chruschtschow den Abzug der Alliierten aus dem Westteil Berlins. Die beiden Studenten Jenny und Robert leben im Osten der Stadt und interessieren sich eigentlich nicht so sehr für die Politik, aber als ein enger Freund verhaftet wird, kadertreue Nachbarn in die Gemeinschaftswohnung einziehen und ein Verhör droht, müssen sie eine Entscheidung treffen. Ein wichtiges Buch zur deutsch-deutschen Trennung, in dem die beklemmende Atmosphäre in der sich teilenden Stadt authentisch eingefangen ist.

Irene Ruttmann wurde 1933 in Dresden geboren, studierte unter anderem Germanistik und Theaterwissenschaft und arbeitete als Dozentin an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, bei Verlagen und für den Hörfunk. Sie lebt in Bad Homburg und wurde vor allem durch ihre Kinder- und Jugendbücher bekannt."Das Ultimatum", ihr erster Roman, erschien 2001. 2015 erscheint"Adele", eine Liebesgeschichte aus dem Ersten Weltkrieg.

2.


Das war im Mai. Jetzt, wo ich das Heft wieder zur Hand nehme, haben wir Oktober. Einen traumhaften, rauschhaften, goldenen Oktober. Bei dem Wort rauschhaft zusammen mit Berlin zucke ich allerdings etwas zusammen. Aber im Grunewald und am Müggelsee explodieren die Farben, wenn die Sonne scheint und man den richtigen Augenblick erwischt hat. In ein paar Tagen ist das vorbei, und hier, in der neuen Wohnung, merkt man nichts von goldenem Licht. Dennoch ist sie das reine Vergnügen. Zuerst hatte die Frau auf dem Wohnungsamt gesagt, ein großes Leerzimmer käme überhaupt nicht in Frage, aber dann sah sie ein, daß wir immerhin zwei kleine Zimmer freimachten. Robert wedelte mit dem neuen Familienbuch vor ihrer Nase herum und sagte klagend, daß weder sein Vermieter noch meine Wirtin uns auch nur eine einzige Nacht zusammenbleiben ließen, selbst als Ehepaar nicht. Meine Wirtin hatte kategorisch erklärt, so etwas gäbe es bei ihr auf gar keinen Fall, was immer sie unter so etwas versteht. Später schenkte sie mir ein ganzes Pfund Karstadt-Kaffee als Hochzeitsgeschenk, und ich dachte an die Fehlgeburt und den weggelaufenen Mann und lud sie zu einem Stück Kuchen ein.

Natürlich geht das Fenster auf einen Hinterhof, und an die Sonne erinnert nur einige Stunden lang ein spitzwinkliges, helles Licht-Dreieck am Boden. Aber die Wände haben wir weiß gestrichen und die Dielenbretter hellbraun lackiert. Wir haben Bücherregale und von zu Hause mein Bett und ein altes Gastbett, die bringen einen Hauch von Bauhaus herein. Dazu meinen Schrank und einen neuen hellen Eichentisch mit Stühlen von den Deutschen Werkstätten, das Hochzeitsgeschenk meiner Eltern. Und eine Bastmatte an der Wand: Dreißig farbige Kunstpostkarten aus der Bücherstube Marga Schöller vom Kurfürstendamm, kreuz und quer angepinnt und vom Bett aus gut zu sehen, sind unser Beitrag zur Formalismusdebatte. Da stehen die bunten Strichmännchen von Miró auf der Gesellschaft der Prinzessin herum, Braque huldigt mit geometrischen Überschneidungen Johann Sebastian Bach, und Klees gelbe Vögel zwischen violetten Unterwasserkorallen und die strahlend gelben Zitronen von Matisse und Picassos karierte Musikanten und Dufy, Kandinsky, Heckel und Chagall, sie alle triumphieren mit uns über jeden Bannstrahl aus verkniffenen Mündern. Schade nur, daß sie so klein sind, die Triumphierenden. Notre-Dame mit der Flèche auf dem Dach hängt wieder an der Tür. Sehr realistisch und unerreichbar weit entfernt.

Kochen, sogar ein Schnitzel braten dürfen wir am Ende des langen, dunklen Korridors in der großen Küche, deren schwarzweiße, an vielen Stellen abgestoßene Kacheln an wohlhabende Bewohner erinnern.

«Das riecht nach Leben», erklärte der Hauptmieter, der kleine uralte Herr Kuhnke und lächelte vorsichtig, weil er mit dem neuen Gebiß noch nicht so gut zurechtkommt. Ich glaube, er war sehr erleichtert, als er schon in den ersten Tagen den Rias aus unserem Zimmer hörte, und stellte den seinen gleich etwas lauter. Mit ihm gemeinsam die Toilette und die Zinkbadewanne zu benutzen ist eine Wohltat nach der Leibesfülle und dem exzessiven Kaffeegenuß von Frau Dankelmann und der sta