Wer sich an der Vergangenheit orientiert, um sich in seiner Gegenwart zurechtzufinden, kommt nicht ohne historische Interpunktionen aus: Man sucht nach Einschnitten in der Zeit, durch die sich Epochen voneinander trennen lassen, Neues gegen Altes abgegrenzt werden kann. Sicherlich gibt es fließende Übergänge, bei denen die Zeitgenossen gar nicht merken, dass sich etwas grundlegend verändert hat; wirklich sinnfällig sind nur die Zäsuren, die sich mit einem einschneidenden Ereignis oder einem Epochenjahr verbinden. 1945, das Ende des Zweiten Weltkriegs und die Teilung Europas zwischen Ost und West, war ein solches Epochenjahr; 1989, der Fall der Mauer, der Zusammenbruch des Ostblocks und das Ende des Kalten Krieges, war ein weiteres. Aber war 1914, der Beginn des Ersten Weltkriegs, auch ein Epochenjahr?
Es gibt einige, die das bezweifeln und stattdessen die weltgeschichtliche Zäsur auf das Jahr 1917 datieren, das Jahr, in dem dieUSA in den großen europäischen Krieg eintraten, während gleichzeitig in Russland zwei Revolutionen stattfanden, deren zweite die weltpolitische Agenda für sieben Jahrzehnte grundlegend verändern sollte.[11] Der Kriegseintritt der Vereinigten Staaten, die der eigentliche Sieger im Ersten Weltkrieg waren – insofern es ihnen als einziger der am Krieg beteiligten Großmächte gelang, aus dem militärischen Sieg politische Macht und ökonomische Prosperität zu schlagen –, hat die Dominanz und Vorherrschaft Europas beendet. Und der Sieg der Bolschewiki in Moskau und Petrograd leitete eine Epoche der revolutionären Heilserwartung ein, in der sich die Politiker und die politischen Intellektuellen mehr denn je zuvor als Verfasser von Zukunftsentwürfen begriffen, als die alles entscheidenden Gestalter des individuellen wie gesellschaftlichen Lebens. Diese Epoche endete, als sich die zähe Macht der Verhältnisse dem gestalterischen Elan der politischen Avantgarden endgültig als überlegen erwies. Die Avantgarden hatten von der Schaffung einer neuen Welt und eines neuen Menschen geträumt.[12] Die Künstler, die Maler und Bildhauer, Lyriker und Schriftsteller, haben diesen Traum verwirklicht: Sie schufen ein neues Bild der Welt und des Menschen. Aber die sozialen und politischen Avantgarden sind gescheitert. Der Sowjetkommunismus und seine Filiationen in Ostasien, Lateinamerika und im subsaharischen Afrika haben gewaltige Energien mobilisiert – und zumeist nur ausgebrannte, erschöpfte Gesellschaften zurückgelassen.
Sollten wir darum nicht doch den Sommer 1914 als das Ende des alten Europa und das Jahr 1917 als Beginn einer neuen Epoche in der Weltgeschichte begreifen? Die Zäsur, die der Erste Weltkrieg in der Geschichte darstellt, wäre dann nicht ausschließlich auf seinen Beginn zu datieren, sondern würde sich über seinen gesamten Verlauf erstrecken, und dabei würde die Eskalation der Gewalt eine ausschlaggebende Rolle spielen. Das ist für große, einschneidende Kriege typisch: dass bei ihrem Beginn nicht abzusehen ist, wie lange sie dauern und welche langfristigen Folgen sie haben werden. Das war bei der Rebellion der böhmischen Stände gegen die kaiserlichen Statthalter in der Prager Burg im Jahre 1618 so, also bei Beginn des Dreißigjährigen Krieges, und das gilt auch für die Intervention der preußischen und österreichischen Heere gegen das revolutionäre Frankreich, der dann mehr als zwei Jahrzehnte lang immer neue Kriegszüge folgten – danach waren die politischen Verhältnisse in Europa fundamental andere.
Als der Historiker Eric Hobsbawm die Formel vom «langen 19. Jahrhundert» prägte, hat er dessen Beginn auf das Jahr 1789 und das Ende auf das Jahr 1914 datiert, also eine historische Einheit vom Beginn der Französischen Revolution bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs behauptet. Hobsbawms Epochenzäsuren sind vom Feuilleton wie von der Wissenschaft bereitwillig übernommen worden.[13] Warum eigentlich? Hätte es nicht nähergelegen, das Ende dieser mit einer bürgerlichen Revolution begonnenen Epoche auf 1917 zu datieren, als