2. Kapitel: Berlin, Mai 1856
Nach monatelanger Tippelei war Karl Schasler endlich ans Ziel gelangt. Auf der anderen Straßenseite lag jene Berliner Weinstube, in der er Stirner anzutreffen hoffte. Friedrichstraße 94, so hatte man ihm gesagt. Er musste nur noch durch den Torbogen gehen, dann würde er dem Lehrmeister gegen-übertreten. Er kannte ganze Passagen seines Buches auswendig, hatte immer wieder anderen daraus deklamiert, gab manchmal an, es seien seine eigenen Gedanken, die er vor-trage. Aber kaum einer seiner Zuhörer glaubte ihm. Mit seinen achtzehn Jahren war er noch zu grün hinter den Ohren. Kein Schustergeselle kann solche Sätze sagen.
Karl war das sechste Kind einer Buchbinderfamilie, die in der Nähe von Regensburg lebte. Sein Vater leimte tagsüber Bücher zusammen und prügelte nach Feierabend seine Kinder. Die Mutter hatte auf einer Liste die Vergehen zusammen-gestellt, die jedes einzelne sich zuschulden kommen ließ, und der Vater wählte aus seiner Sammlung von Schlagwerkzeugen jenes aus, das er für die Bestrafung angemessen hielt. Es gab Ruten, Ochsenziemer, Rohrstöcke, Kleiderbügel mit Eisen-haken, zusammengeflochtene Bassgeigen Saiten. Wenn Karl Glück hatte, kam er mit ein paar Watschen davon. Er sah, welche Freude es seinem Vater bereitete, Hiebe auszuteilen. Nicht selten sang er bei der Prügelei. Oder er grinste ganz vergnügt. «Die Bosheit steckt tief im Herzen des Knaben, aber die Zuchtrute treibt sie heraus, so spricht der weise Salomon», diesen Spruch zitierte er häufig bei den Züchtigungen. Die Mutter stand dabei und rief die Kinder herein. Wenn einer seine Tracht bekommen hatte, strich sie den Namen auf der Liste durch.
Kaum hatte Karl das dreizehnte Lebensjahr erreicht, äußerte er den Wunsch, die Gewerbeschule zu verlassen und sich als Schusterlehrling zu verdingen. Seinen Eltern war dies recht, weil ein Esser weniger am Tisch saß. Schuhmacher König war einer jener Krauter, die keinen Lohn zahlten, um aus den Lehrlingen das meiste herauszuschinden. Karl musste gegen vier in der Früh das Haus verlassen und kam erst nach Sonnenuntergang zurück. Er hörte die Schreie seiner Geschwister, während er erschöpft in der Schlafstube lag.
Durch einen angezettelten Streit gelang es ihm, schon vor der Zeit seinen Lehrbrief zu erhalten. Er hatte dem Meister zwei Paar Schuhe derart versohlt, dass dieser in Regress genommen wurde.
«Aus dir wird nie ein guter Schuster», brüllte ihn der Meister an.
«Aber ein wilder Bursche», erwiderte Karl. Er erbat das Arbeitsbuch, ohne das er sich nicht von Ort zu Ort bewegen durfte. Der Abschied von zu Hause war sein glücklichster Tag. Die Mutter weinte, während Karl nicht mal versuchte, ein trauriges Gesicht zu machen. Als er weit genug von seinem Elternhaus entfernt war, drehte er sich um und rief seinem Vater zwei Worte zu, die er nie bereute: «Mastbürger, damischer!»
Karl Schasler war kräftig gewachsen und während seiner Tippelei keinem Gefecht aus dem Weg gegangen. In jeder großen Stadt, die er erreichte, gab es Herbergen seiner Zunft. Am schwarzen Brett konnte er lesen, wer Arbeit für einen Schuster hatte. Dann musste er sich vorstellen. Er wurde wie ein Sklave gemustert, die Feilscherei um Arbeitszeit und Lohn begann: 14 Stunden für einen Gulden pro Woche nebst Kost und Logis. Mit seinem Arbeitsbuch musste er sich beim Bürgermeister melden, wurde vom Stadtchirurgen untersucht, ob er hautrein sei, dann ging's zur Polizei, wo er lange anstehen musste, und endlich gab es den ersehnten Stempel: Kann in Arbeit treten. Die Polizei prüfte zuvorderst, ob ein Steckbrief gegen den betreffenden Gesellen vorlag.
Es war in Bremen, wo ihm ein Exemplar des Buches «Der Einzige und sein Eigentum» in die Hände fiel. Zunächst verstand er kaum etwas, mühsam entzifferte er Zeile um Zeile. Las manche Stellen zehn- und zwanzigmal, unterstrich hier und da, machte sich Kreuzchen an den weißen Rand. Was für ein Buch, was für Gedanken, was für ein Name! Endlich einer, der keinen Gott und keinen Vater über sich gelten ließ. Das Buch hatte mehr gekostet, als er in drei Wochen verdiente. Es wurde seine Bibel.
Die Tippelei führte Karl Schasler bis Dänemark, nach Jütland, wo er lange am Meer saß und in seinem Buch las, und auch nach Italien, wo er als Deutscher oft verjagt wurde. «Maledetto Tedesco!», schrie man hinter ihm her. Wenn er kein Geld verdiente, verlegte er sich aufs Fechten: Er bettelte in reichen Häusern, trug Gedichte vor, die er in seiner Schulzeit hatte lernen müssen. Ein einziges Mal musste er sitzen, weil er wegen Landstreicherei aufgegriffen wurde. Er ließ die Stadt Hagen danach bei seiner Tippelei links liegen. Dann kam ihm der Gedanke, dass er den Autor seiner Bibel kennenlernen wollte, den Verfasser der hochverehrten Zeilen. Er dachte sich den Mann als wilden Burschen, als wüsten Ketzer, als ungezügelten Helden des Geistes. Ein Meister antistaatlicher Gedanken. «Der Staat beruht auf der Sklaverei der Arbeit. Wird die Arbeit frei, so ist der Staat verloren.»
Ein Gerücht erzürnte Karl Schasler sehr. Ein Lehrbursche in Hamburg behauptete frech, er wisse ganz genau, dass Stirner sich nicht an den Barrikadenkämpfen im Jahre 1848 beteiligt habe. Dem Lehrburschen hatte Karl eins aufs Maul gegeben. Dennoch wollte er den Verfasser danach fragen.
Karl Schasler war gewohnt zu hungern, denn von dem Schusterlohn blieb selten etwas übrig. In Düsseldorf erhielt er einen preußischen Taler pro Woche, Arbeitszeit zwölf Stunden täglich. Die Meisterin hatte sich in ihn verguckt, gab ihm, wenn der Alte liefern war, gelegentlich mal einen Schnaps zum Pumpernickel mit fettem Speck. Die Tippelei war weniger anstrengend, wenn er etwas Alkoholisches bei sich trug.
Er ging durch den Torbogen und wandte sich nach r