Das Warten – die Erwartung
Dem Knaben, der an Karten und Stichen Freude hat,
scheint das Universum wie sein Verlangen grenzenlos.
Baudelaire
Das Leben hat mich nie warten lassen, es ist immer oder fast immer schneller gefahren als ich. Ich bin hinter ihm hergerannt, bin schnell und lange gerannt, habe es aber allzuselten eingeholt. Das einzige, was ich heute von ihmerwarte: ein bisschen Leichtigkeit und innere Freiheit, weiss ich doch bereits, dass ich in dieser trügerischen Welt nur ein paar Gramm bekommen werde, wo ich doch kiloweise davon haben wollte. Ich renne weiter, immer langsamer und langsamer, doch wie lange,hélas, dafür bin ich nicht zuständig.
Und ebendieser Jagd habe ich den grössten Teil meines Daseins gewidmet; sie war es, die mich auf die Landstrassen geführt hat.
Diese Ungeduld, die Welt zu erfahren, wurde zu Beginn der dreissiger Jahre durch uferlose Kinderlektüren geschürt. Mein Vater war Bibliothekar, meine Mutter war die miserabelste Köchin westlich von Sues. Wen wundert’s, dass bei uns zu Hause das Papiermesser wichtiger war als das Brotmesser. Wen wundert’s, dass eine sozusagen absolute gastronomische Gleichgültigkeit aus mir einen äusserst genügsamen Reisenden gemacht hat.
Die katastrophale Meteorologie meiner Heimatstadt Genf sichert uns zahlreiche Regentage. Düstere Sonntage, an denen ich im Alter zwischen sechs und sieben, bäuchlings auf dem Teppich der Bibliothek liegend, den ganzen Jules Verne, Curwood, Stevenson, London, James Fenimore Cooper verschlang. Mit acht zeichnete ich mit dem Daumennagel den Lauf des Yukon in die Butter meiner Brotschnitte. Bereits die Ungeduld: gross werden und danndas Weite suchen. Ich nahm den Erwachsenen ihre langen Beine übel, wahre Siebenmeilenstiefel, ihre Macht, die sie über eine für mich noch mythische Geographie zu haben schienen, ich nahm ihnen auch die Engstirnigkeit ihrer Urteile übel; wenn sie mit pädagogisch erhobenem Zeigefinger zu mir sagten: »Reisen ist kein Beruf«, grinste ich heimlich. Die Kindheit ist gnadenlos. In einem seiner ersten Briefe, die man von ihm besitzt, schreibt der 10jährige Flaubert einem Freund: »Mein Gott! Es gibt nichts Dämlicheres als einen Neujahrstag!«
Dieses Warten dauerte zum Glück nicht allzulange; 1945, kaum waren die Grenzen offen, zog ich los – Burgund, Toskana, Provence, Flandern –, mit dem Segen eines Beamtenvaters, der nicht so viel gereist war, wie er es sich gewünscht hatte, es aber gut und richtig fand, dass ich es an seiner Stelle tat, und der bloss zu mir sagte: »Schau dich um, und schreib mir.« Nüchterner geht’s nicht, und heute, fast fünfzig Jahre später, bin ich ihm immer noch dankbar, und aus mir – denn ich habe Wort gehalten – ist ein leidenschaftlicher Briefschreiber geworden. Dieses jugendliche Herumstreifen führte mich später weiter – Sahara, Lappland, Anatolien – und war auch mit etwas grösseren Risiken verbunden. Noch später, nach Abschluss meines Studiums, war es das grosse Abdriften ins Anderswo oder auf die Landstrassen, das mich in den vielen Jahren trug, als ich noch die Gesundheit hatte, sie zu erleben.
Was mein jugendliches Warten auf die Welt angeht: Es hat sich in reichlichem Masse erfüllt und sogar über die, obwohl aus wunderbaren Büchern stammende, zwangsläufig reduzierende Bilder