Wohnung von Heinrich Graus
Steinfeldstr. 6, Krieglach, Österreich
DONNERSTAG, 15. DEZEMBER 2005, 11 : 42 UHR
Sorgfältig trat der Priester Anthony Fowler die Schuhe an der Fußmatte ab, bevor er an der Tür klingelte. Er hatte den Mann fast vier Monate lang gesucht und ihn, nachdem er ihn in seinem Versteck ausfindig gemacht hatte, beinahe zwei Wochen lang überwacht. Nun war er sich der Identität des Monsters sicher. Der Moment war gekommen, ihm gegenüberzutreten.
Geduldig wartete er, bis Graus zur Tür kam. Mittags hielt dieser gern ein Nickerchen auf dem Sofa.
Die schmale Gasse in der Fußgängerzone war um diese Zeit meist menschenleer. Die braven Bewohner der Steinfeldstraße gingen ihrer Arbeit nach, nicht ahnend, dass hinter der Hausnummer 6 in einem kleinen Häuschen mit blauen Vorhängen ein Massenmörder vor dem Fernseher döste.
Schließlich wurde ein Schlüssel im Schloss gedreht, und in dem schmalen Türspalt erschien der Kopf eines alten Mannes. Eine Großvaterfigur wie aus der Bonbonreklame.
«Ja?»
«Guten Tag, Herr Doktor.»
Der Alte musterte sein Gegenüber von oben bis unten. Er sah einen kahlköpfigen Mann im Priestergewand und in schwarzem Mantel, um die fünfzig, groß gewachsen und schlank, dessen grüne Augen enorme Selbstsicherheit ausstrahlten.
«Ich glaube, Sie verwechseln mich, Pater. Ich war früher Klempner, jetzt bin ich in Pension. Außerdem habe ich erst neulich für die Pfarrei gespendet, wenn Sie mich also entschuldigen möchten …»
«Soll das heißen, Sie sind nicht Heinrich Graus, der bedeutende deutsche Neurochirurg?»
Dem alten Mann stockte kurz der Atem. Von dieser kaum merklichen Reaktion abgesehen, zeigte er keinerlei Regung. Doch dem Priester genügte dies schon. Das war sein endgültiger Beweis.
«Sie haben sich vertan. Mein Name ist Handwurz.»
«Das ist nicht wahr, und wir wissen es beide. Wenn Sie mich jetzt einlassen würden, kann ich Ihnen zeigen, was ich mitgebracht habe.» Er hob die linke Hand, in der er ein schwarzes Köfferchen hielt.
Anstatt zu antworten, öffnete der Alte nun gänzlich die Tür und hinkte in Richtung Küche. Die ausgetretenen Dielen knarrten erbärmlich unter seinen Schritten. Doch der Priester folgte ihm, ohne den Räumlichkeiten große Aufmerksamkeit zu schenken. Er hatte die Wohnung durchs Fenster hindurch drei Mal heimlich studiert und kannte die Aufstellung der billigen Möbel in- und auswendig. Lieber behielt er jetzt den Rücken des alten Nazis im Auge.
Graus ging mit gebrechlichen Schritten voran, als ob ihm das Gehen Schmerzen bereitete, aber Fowler hatte ihn hinten im Garten Kohlesäcke stemmen sehen, mit einer Beweglichkeit, um die ihn ein fünfzig Jahre Jüngerer beneidet hätte. Er wusste, Heinrich Graus war noch immer ein sehr gefährlicher Mann.
Die kleine Küche war dunkel, und der Geruch von Frittiertem hing in der Luft. Das Mobiliar bestand aus einem Gasherd sowie einem runden Tisch mit zwei ungleichen Stühlen. Graus deutete mit höflicher Geste auf einen davon. Dann holte er zwei Gläser aus dem Schrank, schenkte Wasser ein und nahm seinerseits Platz. Die Wassergläser blieben unangetastet auf dem Kiefernholz stehen, so regungslos wie die beiden Männer, die einander forschend ansahen.
Der Alte trug einen roten Flanellmorgenmantel, ein Baumwollhemd und eine abgewetzte Hose. Er war bereits vor zwanzig Jahren ergraut, und mittlerweile war sein schütteres Haar schlohweiß. Die große runde Brille hätte schon beim Fall des Eisernen Vorhangs nicht mehr als modisch gegolten. Seine Unterlippe hing ein wenig schlaff herunter und verlieh ihm den trügerischen Ausdruck eines gutmütigen Opas.
Nichts von alledem konnte den Priester täuschen.
Die fahlen Strahlen der Dezembersonne erzeugten zwischen Fenster und Tisch einen Lichtkegel, in dem Tausende von Staubpartikeln schwebten. Einige davon ließen sich auf dem eleganten Ärmel des Geistlichen nieder, der sie mit einer raschen Handbewegung wegwischte, ohne den Blick von seinem Gegenüber zu wenden.
Graus entging die unerschütterliche Sicherheit nicht, die aus dieser Geste sprach. Aber er hatte seine Fassung bereits wiedergewonnen und verschanzte sich nun hinter einer gleichgültigen Fassade.
«Möchten Sie wirklich nichts trinken, Pater?»
«Ich bin nicht durstig, Dr. Graus.»
«Handwurz. Mein Name ist Balthasar Handwurz.»
Der Priester ging darauf nicht ein. «Ich muss zugeben, dass Sie es ziemlich geschickt angestellt haben. Als Sie sich einen Pass beschafften, um nach Argentinien zu fliehen, konnte niemand ahnen, dass Sie Monate später nach Wien zurückkehren würden. Dort habe ich Sie erst ganz zuletzt gesucht. Nur siebzig Kilometer vom Spiegelgrund … Und während all dieser Zeit stellte Wiesenthal jahrelang Nachforschungen in Argentinien an, nicht ahnend, dass Sie eine kurze Autofahrt von seinem Büro entfernt leben. Finden Sie das nicht auch komisch?»
«Ich finde es lächerlich. Sie sind Amerikaner, nicht wahr? Ihr Deutsch ist ausgezeichnet, aber Ihr Akzent verrät Sie.»
Der Priester stellte sein Köfferchen auf den Tisch, ohne den Alten aus den Augen zu lassen. Er zog eine abgegriffene Mappe aus dem Gepäck. Zuoberst lag ein Foto von Graus in jungen Jahren; die Aufnahme war im Krieg entstanden, in der Klinik Am Spiegelgrund. Darunter lag ein zweiter Abzug desselben Fotos, auf dem man den Arzt dank der Bearbeitung mit einer speziellen Alterungssoftware als Greis sah.
«Finden Sie nicht auch, dass die moderne Technik wahre Wunderwerke fabriziert, Herr Doktor?»
«Das beweist doch überhaupt nichts. Jeder könnte so etwas anfertigen.» Aber Graus’ Tonfall verriet seine Unsicherheit.
«Sie haben völlig recht, das beweist nichts. Das hier jedoch sehr wohl.»
Der Priester legte ein vergilbtes Stück Papier auf den Tisch, an das ein Schwarzweißfoto geheftet war. Darüber prangte in sepiafarbenen Lettern der BeglaubigungsvermerkTestimonianza fornita sowie das Siegel des Vatikanstaats.
«Balthasar Handwurz. Blond, braune Augen, stämmig gebaut. Besondere Merkmale: eine Tätowierung am linken Arm mit der Nummer 256441, die er während seiner Haft im Konzentrationslager Mauthausen von den Nazis erhielt. An einem Ort also, den Sie nie betreten haben. Die Nummer war irgendeine beliebige, aber das war das geringste Problem. Es hat funktioniert.»
Der alte Mann strich sich über den Flanellärmel seines linken Arms. Er war bleich vor Wut und Angst.
«Wer zum Teufel sind Sie?»
«Ich heiße Anthony Fowler, und ich...