: Dietmar Krug
: Rissspuren
: Otto Müller Verlag
: 9783701362271
: 1
: CHF 13.60
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 264
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Mitten in der Nacht flüchtet der achtjährige Burkhard Van der Waiden aus dem Haus, getrieben von Ängsten, die er niemandem mitteilen kann. Seine Eltern sind zu sehr mit sich selbst und ihrem ewigen Ehekrieg beschäftigt, um sich um ihn zu kümmern. Die dörflich-katholische Welt, in der er aufwächst, empfindet er oft als rau und menschenfeindlich. Aber es gibt auch Lichtblicke: die Freundschaft zum Nachbarjungen Matthias etwa, mit dem er sich eine gemeinsame Fantasiewelt schafft. Oder das befreiende Erlebnis eines ländlichen Sommers nach der langen häuslichen Enge des Winters. Burkhard wächst heran und tastet sich allmählich heraus aus der Bedrückung durch Eltern, Kirche und Dorfgemeinschaft. Und dann ist da noch dieses frühreife Mädchen aus der Nachbarschaft, das seine Welt bald gründlich auf den Kopf stellt... Dietmar Krug erschafft in seinem zweiten Roman kein dörfliches Idyll, aber auch keine Provinzhölle. Einfühlsam und bildkräftig erzählt er die Geschichte einer Kindheit und Jugend in der Provinz der 60er- und 70er Jahre. Dabei lässt gerade die Reduziertheit seiner Sprache eine beklemmende Spannung entstehen, der man sich nur schwer entziehen kann.

Dietmar Krug: geboren 1963 im Rheinland, studierte in Aachen und Wien Germanistik, Philosophie und Geschichte. Er promovierte 1996 über Thomas Mann. Seit 1988 lebt Krug in Wien, war dort zunächst freier Verlagslektor, bevor er 2004 begann, für die Tageszeitung 'Die Presse' zu arbeiten, wo er unter anderem die 'Neuen Texte aus Österreich' betreute. Vier Jahre lang verfasste er für die 'Presse am Sonntag' die Kolumne 'Diese Deutschen'. Mittlerweile lebt Dietmar Krug als freier Schriftsteller - er arbeitet an einem neuen Roman und schreibt regelmäßig Artikel in der 'ZEIT'.

Angst

Das Haus, in dem Burkhard Van der Waiden und seine Eltern lebten, stand am Dorfrand direkt gegenüber dem Friedhof, umgeben von Kornfeldern und Wiesen. Sobald die Nacht sich über das Haus legte, wurde es still in seinen Räumen. Selten hörte man abends Autos oder Menschen, und schon bald erinnerte kein Geräusch mehr an die vertrauten Klänge des Tages. Beim Anbruch der Dunkelheit gaben die Eltern ihrem Sohn zu verstehen, es sei Zeit, ins Bett zu gehen. Es war das Signal für ein immergleiches Ritual: Burkhards Mutter führte ihn ans andere Ende eines schwach beleuchteten Flurs mit Steinwänden und einer undurchsichtigen Glastür an der Hausfront. Gemeinsam betraten sie das Kinderzimmer, das neben der Kellertreppe lag, und Burkhard nutzte die Anwesenheit der Mutter noch für einen kurzen Blick unters Bett. Es würde nichts helfen, denn er verriet mit dieser Geste so gut wie nichts von dem, was tatsächlich in ihm vorging. Er spielte bloß die Rolle eines Kindes, das sich vor etwas Greifbarem fürchtet, und versuchte so, seine Angst in ein Bild zu fassen, das sein Gegenüber verstehen konnte. Seine Mutter verhielt sich dann wie eine Frau, die ihr Kind nachsichtig und mit wohlwollendem Kopfschütteln gewähren lässt:

– Siehst du, keiner da.

Es war die einzige Sprache, die sie miteinander teilten – kleine Vorführungen mit Botschaften, die den anderen nie wirklich erreichten.

Die Mutter ließ die Kunststoffrollläden herunter, sie knarrten. Burkhard bestand darauf, sie einen Spalt offen zu lassen, damit etwas Licht von der Straßenlampe in sein Zimmer fallen konnte. Manchmal bat er auch um einen Aufschub, eine weitere Viertelstunde in Gesellschaft der Eltern – stets vergeblich.

– Es ist spät, du brauchst deinen Schlaf, sagte die Mutter, löschte das Licht und verließ den Raum.

Burkhard hörte ihre Schritte auf dem Flur und die Tür zum Wohnzimmer, die sie hinter sich schloss. Dann wurde es still, er war allein, und mit der Stille kam die Angst. Burkhard lag starr auf dem Rücken und lauschte. Ein Tier lief über die äußere Fensterbank und kratzte an den Rollläden. Der Wind drückte gegen das Fenster, drang ins Innere des