: Iris Wolff
: Leuchtende Schatten
: Otto Müller Verlag
: 9783701362288
: 1
: CHF 15.30
:
: Erzählende Literatur
: German
: 328
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Mit einem Unfall am See beginnt die Freundschaft zwischen Ella und Harriet. Die beiden Mädchen, unterschiedlich aufgewachsen und erzogen, sind sich auf unmittelbare, sinnliche Weise vertraut - doch Harriet hat ein Geheimnis, das sie selbst ihrer besten Freundin lange verschweigt. Neben der Wahrheit um Harriets Vergangenheit wird Ella mit einem tiefgreifenden Verlust konfrontiert. Die politischen Ereignisse der Jahre 1943 und 1944 im siebenbürgischen Hermannstadt zwingen die Mädchen zu einem schnellen und unsanften Abschied von der Kindheit. Die Familiengeschichte mit ihren lebendig gezeichneten Figuren ist bestimmt durch Gegensätze: Die Verführungskarft einer zerstörerischen Ideologie, Traditionsbewusstsein und Sehnsucht nach Stabilität. Häuser, Straßen und Natur sind Zufluchtsorte und Identitätsräume und spiegeln doch das Ende einer Epoche. Der beginnenden Auflösung einer jahrhundertealten Kultur wird Lebensmut, humorvoller Pragmatismus und der Wille zum Glück entgegengesetzt. Letztlich bleibt Ella die Zeit mit Harriet in bildhafter Intensität gegenwärtig, denn 'Glück wird durch Leid nicht aufgehoben', und die Erfahrung des Verlusts lässt die Erinnerung umso leuchtender werden. Poetisch und mit beeindruckender Leichtigkeit erzählt Iris Wolff in ihrem zweiten Roman von der Unantastbarkeit der Freiheit, von Freundschaft und Liebe in der Zeit zwischen Kindheit und Erwachsensein.

Iris Wolff: geboren 1977 in Hermannstadt/Siebenbürgen. Studium der Germanistik, Religionswissenschaft und Grafik& Malerei in Marburg an der Lahn. Langjährige Mitarbeiterin des Deutschen Literaturarchivs Marbach, 2013 Stipendiatin der Kunststiftung Baden-Württemberg. Neben dem Schreiben ist sie am Kulturamt der Stadt Freiburg im Breisgau tätig. Ihr erster Roman 'Halber Stein' erhielt den 'Ernst-Habermann-Preis' 2014.

Das fremde Mädchen

Ich liebte Harriet vom ersten Augenblick an.

Mein Tisch trug die üblichen Spuren, Kerben, Tintenkleckse und ein eingeritztes Herz. Einige Zeichen hatte ich hinterlassen, andere stammten von den Jahrgängen vor mir. Der Stuhl war kühl, es roch nach Holz und feuchter Kreide. Schon jetzt hatte ich diesen Geruch wieder satt. Sehnsüchtig sah ich zum Fenster. Aprilwolken zogen ruhelos über den Himmel. Die Linden trugen ihr erstes Grün, Goldglöckchenbüsche standen in flammendem Gelb. Die Seilergasse war seltsam still.

Nach der Morgenandacht hatten die Klassenzimmer alle Mädchenstimmen und -schritte wieder aufgenommen. Vierzig Schülerinnen fasste das Zimmer der Tertia: Alice, meine Tischnachbarin, Maria aus der Harteneckgasse, Grete, deren Vater Arzt war und seine Praxis am Kleinen Ring hatte, meine Cousine Daggi, die Mädchen aus dem Waisenhaus – vierzig braune, schwarze, rote und blonde Schöpfe, die ich alle kannte. Alle? Ich entdeckte einen schwarzen Haarschopf in der ersten Reihe, der mir bisher nicht aufgefallen war. Ein Mädchen mit kunstvoller Frisur, schlankem Hals und einem Rücken, der so gerade aufgerichtet war, dass er die Stuhllehne nicht berührte. Ihre Schultern waren gestrafft und hoben sich im Takt ihres Atems, der Nacken verriet Anspannung und Konzentration.

Professor Schwarz betrat die Klasse, sofort verstummten die Gespräche. Er hatte dunkle Augen und dichtes, mit Pomade gezähmtes Haar, die ihm den Spitznamen „Lupus“ eingebracht hatten. Er begrüßte uns und bedankte sich für das Ostergeschenk, das wir ihm vor den Ferien im Lehrerzimmer hinterlassen hatten. Lächelnd spielte er auf das Scherzgedicht an, das dem Eierlikör beigegeben worden war. Ich war maßgeblich daran beteiligt gewesen und versuchte, mich möglichst ungerührt zu geben.

Lupus nahm eine Liste vom Katheder.

„Elisabeth Franchy.“

Ich erhob mich und blieb neben dem Tisch stehen, bis er nickte und den nächsten Namen aufrief. So ging es weiter bis zum Buchstaben W.

„Harriet Weissenberg?“

Das fremde Mädchen aus der ersten Reihe wandte sich zur Seite und stand mit einer raschen Bewegung auf. Ihr Kleid schob sich hoch, gab die Kniestrümpfe frei und glitt mit fließendem Schwung wieder hinunter. Sie blieb in gerader Halt