Das fremde Mädchen
Ich liebte Harriet vom ersten Augenblick an.
Mein Tisch trug die üblichen Spuren, Kerben, Tintenkleckse und ein eingeritztes Herz. Einige Zeichen hatte ich hinterlassen, andere stammten von den Jahrgängen vor mir. Der Stuhl war kühl, es roch nach Holz und feuchter Kreide. Schon jetzt hatte ich diesen Geruch wieder satt. Sehnsüchtig sah ich zum Fenster. Aprilwolken zogen ruhelos über den Himmel. Die Linden trugen ihr erstes Grün, Goldglöckchenbüsche standen in flammendem Gelb. Die Seilergasse war seltsam still.
Nach der Morgenandacht hatten die Klassenzimmer alle Mädchenstimmen und -schritte wieder aufgenommen. Vierzig Schülerinnen fasste das Zimmer der Tertia: Alice, meine Tischnachbarin, Maria aus der Harteneckgasse, Grete, deren Vater Arzt war und seine Praxis am Kleinen Ring hatte, meine Cousine Daggi, die Mädchen aus dem Waisenhaus – vierzig braune, schwarze, rote und blonde Schöpfe, die ich alle kannte. Alle? Ich entdeckte einen schwarzen Haarschopf in der ersten Reihe, der mir bisher nicht aufgefallen war. Ein Mädchen mit kunstvoller Frisur, schlankem Hals und einem Rücken, der so gerade aufgerichtet war, dass er die Stuhllehne nicht berührte. Ihre Schultern waren gestrafft und hoben sich im Takt ihres Atems, der Nacken verriet Anspannung und Konzentration.
Professor Schwarz betrat die Klasse, sofort verstummten die Gespräche. Er hatte dunkle Augen und dichtes, mit Pomade gezähmtes Haar, die ihm den Spitznamen „Lupus“ eingebracht hatten. Er begrüßte uns und bedankte sich für das Ostergeschenk, das wir ihm vor den Ferien im Lehrerzimmer hinterlassen hatten. Lächelnd spielte er auf das Scherzgedicht an, das dem Eierlikör beigegeben worden war. Ich war maßgeblich daran beteiligt gewesen und versuchte, mich möglichst ungerührt zu geben.
Lupus nahm eine Liste vom Katheder.
„Elisabeth Franchy.“
Ich erhob mich und blieb neben dem Tisch stehen, bis er nickte und den nächsten Namen aufrief. So ging es weiter bis zum Buchstaben W.
„Harriet Weissenberg?“
Das fremde Mädchen aus der ersten Reihe wandte sich zur Seite und stand mit einer raschen Bewegung auf. Ihr Kleid schob sich hoch, gab die Kniestrümpfe frei und glitt mit fließendem Schwung wieder hinunter. Sie blieb in gerader Halt