: Marlen Schachinger
: Albors Asche
: Otto Müller Verlag
: 9783701362295
: 1
: CHF 14.40
:
: Erzählende Literatur
: German
: 264
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Valerian hat sein Zimmer seit 21 Jahren, drei Monaten und sechs Tagen nicht verlassen. Vom Fenster aus beobachtet er, was in Albor vor sich geht, notiert alles akribisch in seiner Chronik. Eines Morgens taucht eine Fremde auf und zieht in die leerstehende Kirche neben Valerian ein. Sie trägt ein auffallend gemustertes Kleid, ihr Haar ist rot und bodenlang. Albors Männer beginnen die Kirche zu belagern, um einen Blick auf die Fremde zu erhaschen. Albors Frauen, denen die erkalteten Ehebetten zu schaffen machen, intrigieren und streuen Gerüchte. In Albor wird Andersartigkeit nicht hoch geschätzt, diese Erfahrung macht Pastora spätestens, als die Schere des Friseurs ihr vor aller Augen das Haar nimmt und das ?Komitee zur Aufrechterhaltung der Tugend und Ehrbarkeit? sich in ihr Leben mischt. In Albor wird auch nicht gemordet, selbst wenn Pastora eines Morgens über eine Leiche stolpert und weitere Tote sich bis zum Fluss hin sammeln. Valerian weiß um die Geschehnisse der Vergangenheit - die Schuld der einen und das Schweigen der anderen. Mit zunehmender Sorge um die Fremde beobachtet er die Veränderungen in Albor, die mit ihrer Ankunft beginnen und ihren Lauf nehmen, unaufhaltsam, denn alles ist in Fluss und man steigt keinesfalls zweimal in den gleichen...

Marlen Schachinger, geboren 1970 in Oberösterreich, studierte Vergleichende Literaturwissenschaft, Deutsche Philologie und Ästhetik. Ihr bisheriges Werk (Kurzgeschichten, Romane, Hörstücke, Lyrik sowie Sachbücher aus dem Fachbereich HerStory) wurde sie mit zahlreichen Stipendien und Preisen ausgezeichnet. In ihrer Dissertation zum Thema 'Werdegang' verglich sie die Pädagogik verschiedener Schreibstudiengänge. Sie lehrt seit 1999 Literarisches Schreiben, 2011 folgte die Gründung eines eigenen 'Instituts für Narrative Kunst'. Marlen Schachinger lebt in der Nähe von Wien.

I  Meteorologie, altgriechisch, μετεωρολογια, Untersuchung der überirdischen Dinge und Himmelskörper

In dieser Nacht hatte er, ebenso wie in den vergangenen Nächten, kaum geschlafen. Maria zog seit einundzwanzig Jahren, zwei Monaten und zweiundzwanzig Tagen ihre Spuren, in manchen Zeiten mehr, in anderen weniger. Er konnte ihre Silhouette über die Wand huschen sehen, und legte er sich ins Bett, ruhte ihr Gesicht bereits am Kissen. Dies hätte ihn nicht sich sorgen lassen, fremd war ihm jedoch, dass ihre Züge sich zu verändern begonnen hatten, sich verzerrten, und schloss er die Augen, rüttelte sie ihn wach … So ließ sich keine Ruhe finden. Er stand auf und trat an sein Schreibpult, die Chronik lag vor ihm, er prüfte erneut Thermometer – dreiundzwanzig Komma neun Grad – und Uhrzeit – vier Uhr sieben und siebzehn Sekunden –, sein Distrometer schwieg, er betrachtete die wenigen zuvor geschriebenen Zeilen:

13. SEPTEMBER, VIER UHR DREIZEHN: Statt der für diese Jahreszeit üblichen sechzehn Grad weist das Thermometer dreiundzwanzig Komma sieben Grad auf. Ein Faktum, das sich nicht erklären lässt. Keine Föhnlage zu verzeichnen. Die Morgennebel, welche in den vergangenen beiden Wochen den Tagesbeginn jeweils begleiteten, sind ausgeblieben. Eine Veränderung kündigt sich an, die noch nicht fassbar ist; mit einem außergewöhnlich milden Altweibersommer lässt sich dieser Temperaturanstieg nicht begründen.

Er sah auf den Hauptplatz. Albor schlief. Vier Uhr einundzwanzig, Lucia würde um drei viertel sieben mit dem Frühstück kommen, er hatte noch ausreichend Zeit, seine gestrigen Studien zur Hydrogeologie fortzusetzen. Er blätterte zurück:

OBGLEICH das Niederschlagsverhalten im ersten Halbjahr größtenteils ausgeglichen war und sich einzig mit geringen Abweichungen um das langjährige Mittel bewegte, konnten doch erst die ergiebigen Mainiederschläge die Grundwasservorräte (bis zu 150 cm) wieder auffüllen.

Zu ungenau! Was war nur los mit ihm? Gestern diese Unruhe, heute eine sonderbare Angespanntheit, niemals zuvor wäre ihm solch ein Lapsus passiert. Verärgert griff er nach dem Bleistift, setzte ein Einfügungszeichen nach ›Halbjahr‹, ein weiter